Der Sommer der Frauen
Verstand und weißt, was du möchtest.»
Sie stieß einen tiefen Atemzug aus, dankbar, weil er sie verstand.
Ich liebe dich auch, Henry
, wollte sie sagen. «Du hast mich immer verstanden. Du bist wirklich der Einzige, der das immer getan hat. Darum fühle ich mich so wohl mit dir.»
Er lächelte. «Gut!»
Sie stand auf, griff nach ihrem Glas und trank einen Schluck. «Du und Vanessa, ihr streitet und versöhnt euch seit Jahren. Offensichtlich existiert zwischen euch eine ziemlich reale Leidenschaft.»
So wie zwischen ihm und ihr. Dieser Kuss eben, der gerade mal fünf Sekunden dauerte, hatte ihre Knie in Wackelpudding verwandelt.
Henry schüttelte den Kopf. «Ich habe Drama mit Leidenschaft verwechselt. Und Gewohnheit mit echten Gefühlen. Vanessa und ich führen schon seit ziemlich langer Zeit keine richtige Beziehung mehr. Und um ganz ehrlich zu sein, wir haben gegenseitig für den anderen einen gewissen Zweck erfüllt.»
So wie John Smith für dich
, konnte sie ihn denken hören.
Sie wandte sich ab. Sie war völlig durcheinander. Plötzlich entdeckte sie auf seinem Schreibtisch ein Foto von sich und Charlie, aufgenommen vor etwa drei Jahren zu Weihnachten. Sie erinnerte sich noch an den Tag. Sie war aus der Pension geflohen, um ihrer Schwester und Edward zu entkommen. Henry hatte sie errettet, hatte mit Charlie einen Schneemann gebaut und sich danach mit ihnen eine Schneeballschlacht geliefert. Er hatte sie und Charlie dabei fotografiert, wie sie Schneeengel machten. Ihre strahlenden Gesichter leuchteten mit Charlies orangenem Schneeanzug um die Wette. Auf eine Art war Henry tatsächlich schon immer ihr «Mann» gewesen, derjenige, an den sie sich zuerst wandte, wenn sie etwas brauchte. Oder jemanden.
«Wir hatten schon ein paar ziemlich gute Momente zusammen, wir drei.» Henry stand hinter ihr.
Wir drei.
Charlie gehörte für ihn dazu. Auch das war schon immer so gewesen. June drehte sich um und sah ihn an. Sie hatte keine Ahnung, was sie ohne ihn tun würde. Auch jetzt noch, wo sie und ihre Familie sich näherkamen, blieb er so lebenswichtig für sie wie die Luft zum Atmen. Er
war
ihr Mann.
Er sah sie an, und wie in einem Film zogen bunt gemischte Szenen vor ihrem inneren Auge vorbei. Henry, der ihr den Nacken massierte, als sie im neunten Monat schwanger war. Henry, der Charlie als kleines Baby im Arm wiegte. Ihm die Windeln wechselte und dabei angepinkelt wurde. Henry, der sie tröstend im Arm hielt, als sie weinte, weil John Smith verschwunden war, weil die ungewisse Zukunft so bleischwer auf ihr lastete. Henry. Immer wieder Henry.
«Tu, was du tun musst, June», sagte er jetzt.
Ich bin so froh, dass ich dich habe
, wollte sie sagen, doch sie bekam keinen Ton heraus.
*****
Als June am nächsten Morgen in der Küche stand und Charlies Pausendose für seinen ersten Tag in der neuen Schule fertig machte, trat Lolly neben sie, bugsierte einen von Kats berühmten riesengroßen Schokoladencookies in die rote Spiderman-Box und sah ihre Nichte offen an. «Du wirkst glücklich, June. Offensichtlich macht es dich glücklich, wieder hier zu sein und in der Buchhandlung zu arbeiten – auch wenn es ein anderer Laden ist.»
June hätte beinahe gelacht. Glücklich? Ausgerechnet hier, in Boothbay Harbor? Zugegeben, es machte sie glücklich, dass Charlie hier so glücklich war, denn das war er. Er liebte das Leben in der Großfamilie. Er liebte es, sich um einen Hund zu kümmern, auch wenn Happy offiziell Isabels Hund war. Er nahm seinen Job, ihn zu bürsten und mit ihm spazieren zu gehen – er bekam dafür von Isabel zwei Dollar pro Woche – sehr ernst. Und er freute sich aufrichtig auf die neue Schule.
Trotzdem fragte er sie beinahe täglich mit unverändert hoffnungsvoller Miene, ob sie mit der Suche nach seinem Vater inzwischen nicht endlich ein Stückchen weitergekommen war. Erst vor fünf Minuten hatte er sie wieder danach gefragt.
«Ich werde heute Vormittag in der Bücherei wieder ein bisschen weiterforschen», hatte June geantwortet, und statt des leisen Schimmers von Enttäuschung, der dann normalerweise über sein sonst so fröhliches Gesicht zog, hatte er nur gesagt: «Okay, vielleicht findest du ja heute was raus», ehe er hinausrannte, um die letzten Minuten bis zum Aufbruch mit Happy zu spielen.
Er war wirklich glücklich hier. Umgeben von Verwandten, die ihn vergötterten und ihm heimlich Kekse in die Pausendose schmuggelten. Die ihn im Vorbeigehen unversehens liebevoll umarmten und ihm
Weitere Kostenlose Bücher