Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
sich zu Wort. Joshua stand neben ihm und zupfte seinen Bruder am Ärmel. »Sie geht zum Tee. Ins Cottage!«
Victoria spürte, wie sie unter dem erstaunten Blick ihrer Schwester bis über die Ohren errötete.
»Das Cottage!« Penelope schnappte nach Luft. »Nun, natürlich hat Mutter mir geschrieben, dass der Duke das Haus wieder geöffnet hat. Wie wunderbar, dass Lady Jane dich eingeladen hat. Ich kann mich erinnern, dass du ihr als Kind ständig nachgelaufen bist und sie geärgert hast.«
»Und jetzt läuft sie dem Marquis nach!«, verriet Joshua und erntete Kicheranfälle von seinem Bruder.
»Jason ist auch hier?«, fragte Penelope, deren grünblaue Augen vor Vergnügen leuchteten.
Als Jason vor fünf Jahren hier gewesen ist, dachte Victoria düster, hat sie auch so ausgesehen. Jason und Penelope hatten mehrere Sommer lang wie die Kletten aneinandergehangen, aber in jenem letzten Sommer vor fünf Jahren hatte sich irgendetwas verändert. Es war der Sommer gewesen, in dem sie keinen Schritt mehr ohne einander getan hatten. Jeden Tag waren sie allein unterwegs gewesen, waren wie ausgelassene Kinder durchs Dorf gelaufen, waren mit der Jolle der Morgans bis auf die Mitte des Merrymere hinausgerudert und hatten sich dort stundenlang treiben lassen – während Victoria nur wehmütig zuschauen konnte, wie ihre Schwester ihr die Liebe ihres jungen Lebens stahl. Nachdem Jason wieder zur Universität gegangen war, hatte ihre Mutter tagelang geweint, nachdem ihr bewusst geworden war, dass kein Antrag erfolgen würde. Sie hatte weitaus länger geweint als Penelope. Kein Wunder also, dass ihre Mutter darauf verzichtet hatte, Jasons Anwesenheit am See in den Briefen an ihre älteste Tochter zu erwähnen.
Penelope warf sich das Haar, das sie für eine verheiratete Frau viel zu lang und viel zu hübsch trug, über die Schulter und stützte ihre Hände in die Taille, die für eine Mutter von zwei Kindern viel zu schmal war. Und dann lächelte sie das umwerfende Penelope-Lächeln, das durch das kleine Muttermal in ihrem Augenwinkel noch umwerfender wurde und den Männern im Umkreis mehrerer Meilen die Knie schwach werden ließ.
Victoria spürte, wie ihr das Herz sank.
Und dann spürte sie etwas Klebriges und Nasses, genau oberhalb dieses Herzens.
Denn natürlich hatte das Baby sich genau diesen Augenblick ausgesucht, um einen Teil seines Mittagessens auszuspeien.
In diesem Moment wurde Victoria Wilton klar, dass ihr das Glück nie und nimmer hold sein würde.
Jane las Victoria Wiltons Nachricht, mit dem ihre Gefährtin aus Kindertagen den Besuch zum Tee absagte, und ärgerte sich. Um eine Absage hätte sie sich wirklich viel früher kümmern müssen. Nicht dass Jane sich auf den Tee mit Victoria Wilton gefreut hätte, nein, ganz gewiss nicht. Nur dass … nun, es war schrecklich heiß, und Jason hatte sich mit seinen Büchern … über Architektur, wie Jane vermutete … in der Bibliothek eingeschlossen. Jane hatte mit ihrem Vater eine Partie Whist nach der anderen gespielt, bis er von Schwester Nancy abgeholt wurde, damit er sich für sein Nachmittagsschläfchen hinlegte. Und Jane … nun, sie hatte niemanden, bei dem sie sich über die Hitze beklagen konnte. Niemanden, mit dem sie sich über ihren Ärger über drei Unterröcke und wollene Strümpfe austauschen konnte. Sich beklagen, so hatte ihre Mutter stets gesagt, heißt, sich das Unerträgliche erträglich zu machen.
Ihre Mutter.
Jane spazierte durch den Wintergarten, wo sie für den Tee hatte decken lassen, und blieb an einem der Fenster stehen, die auf den See hinauszeigten.
An einem Tag wie diesem hätte die Duchess sich endlos über die Hitze beklagt. Und hätte den Tag damit begonnen, sich bei jedem, angefangen von dem niedrigsten Spülmädchen bis zu ihrer ältesten Brieffreundin, darüber auszulassen, wie heiß es doch sei.
Als Jane vierzehn oder fünfzehn gewesen war und sich sehr erwachsen gefühlt und für viel weltgewandter als ihre Eltern gehalten hatte, war die Konversation ihrer Mutter ihr eine beständige Quelle der Peinlichkeit gewesen. Denn sie bestand hauptsächlich daraus, das sie schilderte, was sie sah, und dass sie in Gesellschaft die Gespräche wiedergab, die sie geführt hatte. Wenn Jane also wie jetzt am Fenster stand, auf den See hinausschaute und eine Schar Gänse sah, würde ihre Mutter sich bemüßigt fühlen zu sagen, »sieh mal, eine Gänseherde«. Obwohl es einer solchen Bemerkung eigentlich ja gar nicht bedurfte. Und wenn dann
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