Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
sich über den Norden Englands und halb Schottland aus. In Reston waren die folgenden Auswirkungen spürbar:
Die Insektenpopulation nahm praktisch über Nacht eine gigantische Größe an.
Hemdsärmel galten plötzlich als elegant.
Mrs Hill ging der Baumwollstoff aus – und das innerhalb von drei Tagen.
Fächer, Schweißtücher und die Bänder für Hauben gingen ihr ebenfalls aus – mit den schneeblassen Ladys im Norden ging die Sonne nicht sehr freundlich um.
Die Farmer beklagten, dass sie ihre Herden Wochen vor der Zeit scheren mussten, um ihren Schafen die nötige Erleichterung zu verschaffen.
Die Söhne der Wiltons gingen zum Schwimmen.
Letzteres wird nicht etwa erwähnt, weil die Söhne der Wiltons mit der Kunst des Schwimmens nicht vertraut gewesen wären – sie hatten sie bereits vor geraumer Zeit erlernt. Es wird erwähnt, weil Michael und Joshua Wilton, sieben und neun Jahre alt, sich im Dorf den Ruf als die schlimmsten Rabauken ihrer Generation aufgebaut hatten. Sie herrschten über eine bunt gemischte Schar Kinder (dazu zählten einige aus der Brut der Cutlers und eine der Töchter der Morgans – das einzige weibliche Wesen in ihren Reihen), die in ihren Hosen und Hemden im Dorf umherrannten und die meiste Zeit vor Dreck starrten. Ihre schmutzigen Handabdrücke, die sie hinterließen, waren oft der einzige Hinweis, dass ein Apfel gestohlen oder der Zaun der Cutlers entzweigebrochen worden war, weil dessen Latten als Schwerter im Kampf der Ritter um ihre Damen gebraucht wurden. Die Jungs der Wiltons galten als schwer zu bändigende Kinder, die jedoch in Anbetracht ihres Elternhauses und Michaels unwiderstehlichem Charme von der Allgemeinheit ertragen wurden, zumal die Gerechtigkeit hin und wieder doch siegte, indem sie erwischt und bestraft wurden.
Zum Schwimmen zu gehen sorgte dafür, dass sie ungewöhnlich sauber herumliefen.
»Michael! Joshua!«, rief Minnie, die Haushälterin der Wiltons, vom Haus her. »Hat einer von euch beiden den kalten Braten aus der Speisekammer stibitzt?«
»Nein!«, riefen beide wie aus einem Munde von ihrem Revier am Flussufer zurück.
Einen Moment lang blickte Minnie die Jungen misstrauisch an. Aber da mangels eines hieb- und stichfesten Beweises kein Sünder belangt werden konnte, kehrte sie nach einem letzten wachsamen Blick in die Küche zurück.
»Wetten, du traust dich nicht, in den Fluss zu springen?«, sagte Michael zu Joshua, nachdem Minnie wieder im Haus verschwunden war.
»Ach, das ist doch einfach.« Joshua spie das Schilfstück aus, auf dem er herumgekaut hatte, und machte sich zum Sprung bereit. Er trug weder Strümpfe noch Schuhe, nur Hose und Hemd – sowohl das eine als auch das andere hatte den Fluss an diesem Tag bereits aus nächster Nähe gesehen.
»Nein!« Michaels schelmisches Grinsen wurde teuflisch. »Wetten, dass du dich nicht traust, von da aus zu springen?«
Joshua schaute zu der Stelle, zu der Michael zeigte. Es handelte sich um den großen Baum, der dicht am Ufer stand. Seine starken Äste ragten ein Stück weit über den Fluss, dessen Strömung in der tiefen ausgeschachteten Mitte sehr stark war. Eine Spur von Angst huschte über Joshuas Gesicht, aber es gelang ihm, sie sofort zu unterdrücken, ehe sein Bruder ihn so sehen und ein Baby nennen würde. Denn das war er nicht mehr. Außerdem war es schließlich nicht seine Schuld, dass er der Jüngste war!
»Von ganz vorn an der Astspitze?«, fragte Joshua tapfer.
»Von ganz vorn.« Michael nickte und schob sich das strohblonde Haar aus den Augen. Joshua schluckte mannhaft und begann seinen Aufstieg in den Baum.
Michael schaute zu, wie sein Bruder den Ast erreichte, auf den er gezeigt hatte, und sich an die Stelle vortastete, an der der Ast sich in kleinere Zweige teilte und sich unter dem Gewicht des Siebenjährigen durchzubiegen begann. Joshua warf seinem Bruder ein zufriedenes Grinsen zu (da ihm zwei Frontzähne ausgefallen waren, wirkte sein Lächeln bemerkenswert breit und charmant).
»Gut! Es geht los!«
Joshua schaute auf das Wasser, das in der Mitte des Flusses schnell dahinfloss. Es war doch wohl tief genug, oder?
»Eins …«
Er ließ sich los und balancierte nur noch auf den Füßen. Die Kälte in seiner Magengrube weckte in ihm den Wunsch, vorhin doch nicht so viel von dem Braten verschlungen zu haben.
»Zwei …«
Michael hatte den Blick fest auf seinen Bruder geheftet und krallte seine nackten Zehen erwartungsvoll ins Gras.
»Drei!«
»Joshua! Was machst du
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