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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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einen Kopf gegessen hätten? Haben Maden ein Gehirn? Wir haben Madenhirn gegessen, Clarice.
    An allem, was missfallen, schockieren, erschrecken, Abscheu erregen konnte, fand Maria Inês eine morbide Freude. Wenn der Cousin João Miguel kam, um die Ferien bei ihnen zu verbringen, empfing sie ihn stets mit einer Kröte oder einem Käfer in der Hand. Aber das schien zu ihrer Art des Liebens zu gehören, denn es stimmte auch, dass sie auf João Miguel aufpasste und ihn, obwohl sie die Jüngere war, mit ihrem fast schon arroganten Mut vor allem und jedem beschützte.
    Clarice wusste nichts über das Bild von Whistler. Sie hatte noch nie davon gehört. Sie saß auf Tomás’ Wohnzimmerboden,mit dem Rücken gegen das zweisitzige Sofa gelehnt, das Cândido vor einigen Jahren ausgemustert hatte, weil es schon damals zu alt gewesen war, trank ihren Orangensaft und versuchte, Wodka herauszuschmecken.
    Bei dem Gedanken an Cândido fragte Clarice: Wie geht es eigentlich diesem Typ, der deine Bilder kauft, dem Galeristen?
    Er interessiert sich immer noch für deine Arbeiten, antwortete Tomás und deutete mit dem Kopf auf einen von Clarice in Marmor gehauenen weiblichen Torso, der einsam auf einem Regalbrett stand. Der Rumpf bog sich zur Seite, leicht nach hinten, die Schultern waren geöffnet. Die unvollständige Frau streckte ihre nicht vorhandenen Arme aus – um was zu empfangen? Was für eine Gabe? Was für eine Bestrafung? Auf der absichtlich ungleichmäßigen Oberfläche erkannte man noch die Spuren des Meißels. Als müsste das kleine Werk unvollständig sein. Oder ambivalent. Halb Skulptur, halb formloser Stein. Halb Frau, halb Andeutung. Halb wirklich, halb unmöglich. Hätte sie Augen gehabt, wären aus ihnen vielleicht Tränen geflossen. Weil sie aber keine hatte, wurden die Tränen um sie her beschworen wie ein Duft oder ein Geist. Die ganze Skulptur schien zu weinen. Vielleicht war sie ein Selbstporträt, das an der Grenze zum Unsichtbaren die Erinnerung an eine Gefahr aufrechterhielt.
    Clarice betrachtete ihre Füße: sie waren klein, vernachlässigt. Wie früher Maria Inês’ Füße, dachte sie. Heute waren die Füße ihrer Schwester gewiss eingecremt, ihreNägel gepflegt, bestimmt trug sie Seidenstrümpfe und teure, modische Schuhe, die sie in einer der Boutiquen von Leblon oder gar in Florenz gekauft hatte. Hühneraugen: undenkbar. Aber auch das war nur ein weiteres Vorurteil. Leidenschaftslos betrachtete Clarice die Skulptur, die sie Tomás geschenkt hatte. Dann sagte sie: Ich glaube, im Moment möchte ich keine Verpflichtungen eingehen.
    In Wahrheit dachten sie beide an etwas anderes. Das zentrale Thema war sie, Maria Inês. Immer sie. Die als Abwesende ein immer größeres Gewicht bekommen hatte. Jetzt, da sie am nächsten Tag eintreffen würde, steigerte sie sich ins Übermächtige, zu einem Übermaß ihrer selbst. Vielleicht würde sie enttäuschen, denn wenn sie leibhaftig vor ihnen stand, wenn sie aus dem Limbus der Ideen herabstieg, konnte es geschehen, dass sie ihre Aura verlor. Oder es tat vielleicht wirklich weh. Clarice und Tomás umkreisten Maria Inês, sie war immer nur eine, höchstens zwei rasche Assoziationen entfernt, doch sie nannten sie nicht beim Namen. Maria Inês war allgegenwärtig wie die Angst und flüchtig wie die Wahrheit.

TRIO FÜR HORN, VIOLINE UND KLAVIER
    An dem Morgen, an dem Maria Inês im Landesinneren des Bundesstaates Rio de Janeiro geboren wurde, fiel ein feiner, trüber Regen. Vielleicht mochte sie es deshalb seit jeher, wenn es leise regnete, als wäre dieses Weinen der Natur ihrem Gedächtnis eingeschrieben wie die dunkle Farbe ihrer Augen und Haare ihrem genetischen Code. Maria Inês wurde ins Leben gezerrt, während der Gott ihrer Eltern sanfte Tränen über das Land vergoss, und irgendwo wurde noch etwas anderes geboren, eine Knospe, die stumm austrieb. Mit dem Ernst der höheren Dinge.
    Sie erhielt den Namen ihrer Großtante väterlicherseits, die in geistiger Umnachtung gestorben war, doch ihre Eltern, Otacília und Afonso Olímpio, glaubten nicht, dass dies ein schlechtes Vorzeichen sein könne. In Afonso Olímpios Familie war es gang und gäbe, dass die Namen sich wiederholten. Seiner zum Beispiel, Afonso, stammte von seinem Vater, Olímpio von seinem Onkel. Sein Bruder, der noch in Minas Gerais lebte, hieß Mariano Olímpio, benannt nach einem anderen Onkel, dessen Name sich seinerseits von einer gewissen Mariana herleitete, einer Verwandten, die man wie eine

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