Der Sommer der Schmetterlinge
allen. Früher, als Zwanzigjähriger, hatte Tomás sich mit Cuba Libre betrunken und danach zehn, zwölf Stunden am Stück geschlafen. Heute musste er sich mit der Schlaflosigkeit abfinden.
Auch Clarice wartete, allerdings aus anderen Gründen. Es war schon nach neun, als sie ihre Jeans überzog, in ihre Havaianas schlüpfte und den dunklen Weg einschlug, der an Tomás’ Tür endete.
Viele Jahre zuvor hatte das Haus, in dem er wohnte, zu Afonso Olímpios und Otacílias Besitz gehört: ein schlichtes Landarbeiterhaus, zu unbedeutend, als dass man ästhetische Überlegungen bei seinem Bau angestellt hätte, mit einer kleinen Veranda, die denselben rötlichen Zementboden hatte wie das winzige Wohnzimmer, das Schlafzimmer und die Küche. Die vergleichsweise große Küche war früher der Ort gewesen, wo man aß, Gästeempfing und am Herdfeuer die Kälte der Winternächte vertrieb. Früher, als es noch keinen elektrischen Strom gab, nur Kerzen und Lampen, an denen Insekten den Flammentod starben. Jetzt hingen zyklopenhafte Glühbirnen ohne den unnötigen Aufwand von Leuchtern oder Schirmen nackt von der Decke, und man sah ihre Drähte wie Eingeweide aus dem Zement quellen.
Du arbeitest nicht?, fragte Clarice und stieß die wie immer halbgeöffnete Tür auf.
Bei Tomás verzichtete sie mittlerweile auf jede Förmlichkeit, und vor ihm schämte sie sich auch nicht der Narben auf ihren Unterarmen. Ein paar gelockte Haarsträhnen hatten sich aus ihrem nachlässig gebundenen Knoten befreit. Sie trug keine Ohrringe. Ihre Haut war nicht so blass wie die von Maria Inês, war es nie gewesen, selbst wenn sie monatelang die Sonne mied – ganz im Widerspruch zu ihrem Namen, Clarice.
Du bist nicht beim Malen?, wiederholte sie ihre Frage, obwohl Tomás bereits verneint hatte.
Heute nicht, sagte er, und sie begriff. Schüchtern erkundigte sie sich: Du hast nicht zufällig was zum Trinken da? Ein Bier oder vielleicht einen Likör?
Ich dachte, du hättest aufgehört, sagte er. Seine Worte enthielten keinen Vorwurf.
Es stimmt, dass ich aufgehört habe. Aber heute, du weißt ja.
Tomás nickte, sagte jedoch, er sei schon eine Weile nicht mehr zum Einkaufen in der Stadt gewesen und die letzte Flasche Wodka, der einheimische, von dem mankeine Kopfschmerzen bekomme, habe er am Vorabend ausgetrunken.
Clarice stieß mit dem Fuß leicht gegen die Teppichkante und sagte: Das ist aber schade.
Ich kann dir einen Kaffee machen. Oder wir holen ein paar Orangen und pressen uns einen Saft.
Orangensaft mit Wodka wäre toll, meinte Clarice lächelnd. Hi-Fi . Erinnert mich an manche Partys vor vielen Jahren.
Das spärliche Licht einer müden Glühlampe beschien die Veranda. Alles andere vor dem Haus war Finsternis. Doch Tomás und Clarice waren die Dunkelheit gewöhnt. Der Hund begleitete sie bis an die Tür. Seine grenzenlose Faulheit hinderte ihn daran, bis zu den Kaninchenverschlägen und dem strohgedeckten Hühnerstall weiterzulaufen, die drei Stufen hinaufzuspringen, die in den kleinen Obstgarten führten, wo ein paar Orangenbäume, ein Zitronenbaum, ein Acerolastrauch und Guavenbäume wuchsen. In die Nacht getaucht, erschienen die Bäume wie große, verschlafene Geister, sie schwankten und schlingerten, vielleicht, weil ein schwacher Wind blies, vielleicht taten sie es auch absichtlich. Wer wusste das schon? Möglicherweise besaßen die Bäume einen eigenen Willen, oder aber die Nacht verlieh ihnen besondere Fähigkeiten. Zwischen den Zweigen leuchteten Glühwürmchen auf und weit, weit dahinter unzählige Sterne. (Irgendwo zeigte ein Vater seinem Sohn vielleicht gerade die Sternschnuppen: Sieh mal, Marco. Sieh mal, Flávio. Vielleicht.)
Clarice und Tomás pflückten sechs reife Orangen. Als sie noch ein schüchternes und gehorsames Mädchen gewesen war, vor Rio de Janeiro, vor Ilton Xavier, vor den Narben an den Handgelenken, als das Landarbeiterhaus noch nicht einmal von Tomás geträumt hatte, waren Clarice und ihre Schwester gern auf die Guavenbäume geklettert, um reichlich von den süßen Früchten zu naschen, in denen nicht selten ein Wurm sein Fest feierte.
Hast du mal überlegt, wie viele Maden wir schon gegessen haben müssen, ohne es zu merken?, fragte Maria Inês eines Tages.
Clarice machte ein angeekeltes Gesicht und wies diese Möglichkeit energisch zurück: Wir passen immer auf.
Man kann gar nicht genug aufpassen. Bestimmt haben wir schon Teile von Maden gegessen. Einen Kopf oder einen Schwanz. Und wenn wir tatsächlich
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