Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
Fragen, die sie später, vorsichtig umformuliert, immer wieder stellten. Simons Eltern wollten wissen, ob ich mich an manches vielleicht nicht mehr richtig erinnerte. Ob Simon womöglich an diesem Abend Alkohol getrunken und einen epileptischen Anfall gehabt habe. Ob er wütend und unglücklich gewesen sei. Ob er dies, ob er das … Seine Eltern suchten nach einem Anlass, einem Grund, der nichts mit dem Wetter, dem Zufall oder dem Leichtsinn ihres Jungen zu tun hatte, der sich zu nahe an ein Gewitter herangewagt hatte. Sie sehnten sich nach einer klar definierten Ursache, nach etwas, was sie verstehen konnten. Irgendetwas, das einen Sinn ergab.
Doch ich wusste, dass es Zeitverschwendung war, danach zu suchen.
Ich erzählte meinen Eltern, was sie wissen mussten, und stellte sicher, dass sie Simons Eltern mitteilten, wie sehr er mit ihnen, ja mit seinem ganzen Leben im Reinen gewesen war, dass er an jenem Abend vollkommen nüchtern gewesen war und seiner Zukunft hoffnungsvoll entgegenblickte. Doch außer den reinen Fakten gab ich nichts preis. Für sehr lange Zeit.
Inzwischen rede ich über Simon. Ich will mich für immer an alles über ihn erinnern. Deswegen schreibe ich über ihn. Das fällt mir leichter, als meine Gedanken laut auszusprechen. Außerdem ist es bleibender – wie eine Art Protokoll. Ich habe schon immer ein gutes Erinnerungsvermögen gehabt, ein gutes Gedächtnis für Fakten – obwohl sich vieles, was hinter einem liegt, verändert, wenn man versucht, es in Worte zu fassen. Die Vergangenheit ist demnach trügerisch. Das alles ist mir klar. Sogar die Gegenwart ist schwer festzulegen. Man glaubt, dass man alles weiß, was um einen herum vorgeht. Aber man sieht nicht immer klar und deutlich, wenn man mitten im Bild steht.
Dennoch sind mir alle Ereignisse jenes Sommers noch frisch und deutlich in Erinnerung, und wenn ich meine Tagebücher lese, ist es, als säße ich in meinem Zimmer in Wind Song und schriebe. Mein Zimmer duftet nach wilden Rosen und Meer. Sonnenlicht fällt durch die Gardinen auf die breiten Bodendielen. Ich muss nur die Augen schließen, schon bin ich dort.
Das ist jetzt fast genau ein Jahr her. Ich bin inzwischen siebzehn Jahre alt. Bald beginne ich mit meinem Abschlussjahr. Ich fange an, mir über Colleges Gedanken zu machen. Es hilft mir, über etwas nachdenken zu müssen. Ich möchte immer noch Ozeanographie als Hauptfach studieren, aber es ist unklar, wie sich alles ergeben wird. Man kann nur einige Schritte auf die Zukunft zugehen, die man sich wünscht; ob sie eintrifft, weiß man nie.
Deswegen muss man jedes Ereignis, ob schön oder schrecklich, voll ausleben, so, wie es eintrifft, denn es könnte sein, dass die Gegenwart das Einzige ist, was man hat. Und wenn noch viel vor einem liegt, kann man in der Gegenwart tatsächlich seine Zukunft formen. Simon hat mir das vor Augen geführt. Wenn man an den Seitenlinien des Hier und Jetzt stehen bleibt, wird die Zukunft nie mehr werden als eine blasse Version des Traums, den man nie den Mut hatte, in die Tat umzusetzen.
Das ist meine positive Sichtweise. An manchen Tagen kann ich mich ihr überlassen. An manchen Tagen sage ich mir auch, dass es besser ist, jemanden geliebt und verloren zu haben, als nie geliebt zu haben, oder wie auch immer dieser Spruch heißt. An manchen Tagen bin ich mir sicher, dass ich eines Tages wieder ›Kind of Blue‹ auflegen kann. Doch an den schlechten Tagen bin ich überzeugt, dass ich es niemals schaffen werde. An den schlechten Tagen vermisse ich ihn einfach nur.
Die Nächte sind am schlimmsten. Meine Albträume lassen zwar allmählich nach, und in den meisten Nächten kann ich schlafen, ohne von Erinnerungen und Reue verfolgt zu werden, die aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche treiben. Doch in manchen Nächten träume ich von Simon, der gegen die Strömung ankämpft. Ich träume von Einschnitten in der Sandbank, die die Riptide verursacht hat – tiefe Furchen, wie von Peitschenhieben.
In anderen Nächten ist mir, als sei ich wieder dort draußen im Wasser, und es ist wunderschön, pulsierend vor Elektrizität, der Himmel violett und leuchtend. Zitternd wache ich auf, liege im Bett und warte darauf, dass die Sonne aufgeht, während mir die Tränen über die Wangen ins Kissen laufen. In diesen Momenten kommt es mir vor, als wäre alles nur einen Wimpernschlag vorher geschehen.
Dann wieder wache ich in Schweiß gebadet vor Erleichterung auf, überglücklich, in dem Wissen, dass wir
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