Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
ihn gerettet haben und jetzt alles gut wird.
Doch dann wird mir klar, dass ich nur geträumt habe. Es ist wie das Gegenteil eines Albtraums. Man kneift die Augen nach dem Aufwachen wieder fest zu, damit die Träume zurückkehren und einen über den Albtraum der Realität hinwegtrösten.
»Und, wie findest du Tybee?«, fragt mich Mom und hakt mich unter. Ich lächle sie an. Ihr Haar ist in letzter Zeit stärker ergraut, und sie lässt ein paar Strähnen ungefärbt. Es steht ihr gut.
»Ganz nett«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Der Strand gefällt mir.« Nicht so wie Indigo Beach. Es ist schwer, nicht an diesen Ort zu denken, dem Simon seinen Namen gegeben hat. Und vielleicht weiß Mom Bescheid, denn sie drückt meinen Arm und klemmt ihn unter ihren, während wir Eva voraushüpfen sehen und meinen Dad beobachten, der sich bückt und etwas an der Wasserlinie inspiziert.
Mom und ich sind uns im Laufe des vergangenen Jahres nähergekommen. Wir werden niemals ein Herz und eine Seele werden, aber wir haben uns inzwischen besser kennengelernt. Die Kluft zwischen uns ist schmaler geworden. Ich hätte nie geglaubt, dass ich sie so sehr brauchte, aber ich bezweifle, dass ich ohne sie das letzte Jahr überstanden hätte.
Wir laufen über den Sand, und ich lasse den Blick übers Meer schweifen. Oft frage ich mich, wo die Botschaft jetzt ist, die ich ins Wasser geworfen habe …
In dem Frühling, nachdem Simon ertrunken war, bin ich nach Long Island zurückgekehrt. In Minnesota hatte ein Gedenkgottesdienst für ihn stattgefunden, und seine Mutter hatte meiner geschrieben. Aber ich wollte nicht einmal etwas davon hören. Es war noch zu früh. Es dauerte Monate, bis ich Abschied nehmen wollte, und obwohl sich vieles in mir sträubte, nach Indigo Beach zurückzukehren, wusste ich, dass es sein musste.
Es war ein kühler Tag, und der Strand war leer. Meine Eltern begleiteten mich. Als wir am Strand entlangliefen, versuchte ich, nicht zu Wind Song hinüberzublicken. Leer stand es da, wie eine angespülte Muschel. Meine Tante war in Europa und lehrte an einer französischen Kochakademie, mein Onkel war in Manhattan, Beth an der Uni und Corinne in ihrer Schule etwas außerhalb von New York. Alles fühlte sich zerbrochen, traurig und vergessen an, wie die Fracht eines Schiffswracks. Der Duft des Sommers war verflogen. Es war zu spät für diese besondere Mischung der Süße wilder Rosen und Seegras. Oder zu früh.
Das Haus wirkte noch aus einem anderen Grund leer – das war es nämlich tatsächlich. Keine Spur meiner Familie war zwischen den Mauern von Wind Song zurückgeblieben, und ein Zu verkaufen -Schild hing einsam an einem Pfosten vor der Einfahrt. Mein Onkel hatte sehr viel Geld verloren. Auch das anderer Leute. Sie mussten das Haus verkaufen. Nicht nur, weil sie es sich nicht mehr leisten konnten, sondern auch, weil meiner Mutter zufolge Onkel Rufus in Southampton nicht mehr gern gesehen war.
Als mir Mom von dem Haus erzählte, erinnerte ich mich daran, wie ich letzten Sommer mit meinem Onkel im Yachtclub gewesen war. An die frostige Begrüßung von Onkel Rufus’ Freund William. Damals dachte ich, dass Dad und ich die Ursache dafür waren, dass er uns die kalte Schulter gezeigt hatte, weil wir nicht dorthin gehörten.
Nie wäre es mir eingefallen, dass mein attraktiver, charmanter, wohlhabender Onkel derjenige war, den dieser Mann nicht zu sehen wünschte. Doch obwohl Onkel Rufus und Tante Kathleen einen großen Teil ihres Vermögens verloren hatten, ging ihr Leben weiter. Für wohlhabende Leute, stelle ich mir vor, wird es wohl immer irgendwo Geld geben …
Als ich mich dem Wasser näherte und Wind Song hinter mir ließ, empfingen mich die Gerüche von Sand und Salzwasser. Ich atmete tief ein, und ein vertrautes Prickeln blieb zurück. Der Geruch des Meeres. Das Bleiglaslicht. Hamptons Blue. Diese milde Sanftheit des Sommers, dieser goldene Dunst, die mir so vertraut waren, waren fort, doch das Frühjahrssonnenlicht schimmerte hell und klar. Als ich in das eiskalte Wasser watete und in die wogenden blaugrünen Tiefen des Ozeans am Indigo Beach blickte, spürte ich den Funken von etwas Gutem. Nicht gerade Glück, aber vielleicht die Erinnerung daran, eine entfernte Verwandte des Glücks.
In meinen Händen hielt ich eine Flasche, und in der Flasche war eine Nachricht für Simon. Ich hatte lange gebraucht, bis ich bereit war, etwas zu tun, was mich an ihn erinnern würde, weil ich so lange gebraucht hatte, um
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