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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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er sogar, wie der Junge stürzte, mit ausgebreiteten Armen, und in der Luft nach etwas schnappte, woran er sich festhalten konnte, und er spürte seine Angst, während der harte Boden auf ihn zuraste. Andere Male sah er ihn im Fenster, dahinter die Silhouette eines Mädchens mit langem blondem Haar; er wollte ihn von unten warnen, rief seinen Namen, aber er kam zu spät. Die Silhouette schubste den Jungen, und er schoss hinaus, ehe er mit einem dumpfen Knall zu seinen Füßen aufschlug, einem letzten und unverwechselbaren Knacken, dem ein Gelächter folgte. Er hob den Kopf, und dort stand sie: triefend wie damals, als sie sie aus dem Wasser holten, mit einem rachsüchtigen Lächeln im Gesicht.

DONNERSTAG

6
    Héctor hatte noch nie großes Vertrauen in Leute, die vorgaben, sie kennten sich mit den nervlichen Unzulänglichkeiten der Menschen aus. Nicht dass er sie für Scharlatane hielt, auch nicht für unverantwortlich; er hielt es einfach nur für unwahrscheinlich, dass jemand, der gleichermaßen Gefühlen, Vorurteilen und Obsessionen unterworfen war, die Fähigkeit haben könnte, in die Windungen fremder Köpfe einzudringen. Und mit dieser Vorstellung betrat er jetzt, zum ersten Mal in seinem Leben, als Patient das Sprechzimmer eines solchen Kenners.
    Er betrachtete den jungen Mann auf der anderen Seite des Tisches und versuchte, um nicht unhöflich zu erscheinen, sich seine Skepsis nicht anmerken zu lassen, auch wenn es ihm schon recht merkwürdig vorkam, dass dieser Junge, der vor kurzem noch Student gewesen sein musste, zwanglos gekleidet in Jeans und einem grün-weiß karierten Hemd, die Karriere eines dreiundvierzigjährigen Inspektors in der Hand hatte, der sein Vater hätte sein können. Dabei musste er an Guillermo denken und die Reaktion seines Sohns, als vor Jahren dessen Tutor an der Schule darauf hinwies, dass es sicher nicht verfehlt wäre, ihn zu einem Psychologen zu schicken, damit er ihm, wortwörtlich, »hilft, sich den anderen gegenüber zu öffnen«. Auch Ruth stand nicht gerade auf Seelenklempnerei, aber beide hatten sich gesagt, dass sie sich nichts vergaben, auch wenn sie genau wussten, dass Guillermo Umgang pflegte, mit wem er wollte. Über das Ergebnis hatten Ruth und er wochenlang gelacht. Die Psychologin hatte ihren Sohn gebeten, ein Haus zu malen, einen Baum und eine Familie, und Guille, der mit seinen sieben Jahren in einer Comic-Phase war und schon das gleiche Talent für die bildenden Künste zeigte wie seine Mutter, stürzte sich begeistert in die Arbeit, wenn auch auf selektive Art: Bäume mochte er nicht, also weg damit, stattdessen zeichnete er eine mittelalterliche Burg als Haus und Batman, Catwoman und den Pinguin als Familie. Nicht auszudenken, zu welchen Schlussfolgerungen die arme Frau gelangte, als sie die vermeintliche Mutter sah, in Lederdress und mit Peitsche in der Hand, aber beide waren sich sicher, dass sie die Zeichnung aufbewahrt hatte für ihre Doktorarbeit über die moderne dysfunktionale Familie oder so ähnlich.
    Er hatte gelächelt, ohne es zu bemerken; er entnahm es dem fragenden Blick, den ihm der Psychologe durch das Metallgestell seiner Brille sandte. Er räusperte sich und beschloss, sich seriös zu geben.
    »Wie ich sehe, fühlen Sie sich wohl, Herr Inspektor, das freut mich.«
    »Bitte um Verzeihung, aber mir ist gerade etwas eingefallen. Eine Anekdote von meinem Sohn.« Er bereute es sofort.
    »Aha. Sie vertrauen der Psychologie nicht so recht, nicht wahr?« Es klang keine Feindseligkeit heraus, eher aufrichtige Neugier.
    »Dazu habe ich keine vorgefasste Meinung.«
    »Aber erst einmal misstrauen Sie. Das ist gut so. So denken ja auch viele Leute von der Polizei, nicht?«
    »Mittlerweile hat sich doch vieles geändert. Die Polizei wird nicht mehr als Feind angesehen.«
    »Richtig. Sie ist keine Institution mehr, die den Bürgern Angst einflößt, zumindest nicht den rechtschaffenen. Auch wenn es noch Zeit braucht, bis sich das Bild von uns wirklich ändert.«
    Trotz des neutralen, unvoreingenommenen Tons wusste Héctor, dass es einen steinigen Hang hinabging.
    »Wollen Sie etwas Bestimmtes damit sagen?«, fragte er. Er lächelte nicht mehr.
    »Was glauben Sie, was ich sagen will?«
    »Kommen wir einfach zur Sache ...« Er konnte seine Ungeduld nicht verbergen. »Wir wissen beide, warum ich hier bin und was Sie rausfinden sollen. Reden wir nicht um den heißen Brei.«
    Schweigen. Salgado kannte die Technik, auch wenn er diesmal auf der anderen Seite

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