Der Sommer der toten Puppen
hielt das andere Glas Héctor hin, mit einer fast koketten Miene. Doch ihr Lächeln verflog, als sie sein Gesicht sah.
21
In die Wohnung der Martís schien eine Truppe umsichtiger Soldaten einmarschiert zu sein, die mit leiser Stimme und entsprechenden Gesichtern zu Werke gingen. Ein strenger Lluís Savall gab seinen Männern knappe Anweisungen, wobei er Salvador Martí und dessen Frau im Blick behielt, die, auch wenn sie im Wohnzimmer nebeneinander auf dem dunklen Sofa saßen, den Eindruck machten, als befänden sie sich kilometerweit entfernt: er starrte auf die Tür, sie saß aufrecht da, angespannt, gehalten von einer inneren Kraft und mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Schmerz in den geröteten, trockenen Augen. Der Schrecken war in diesem Zimmer nur in ihren Köpfen, Bilder, die sie schwerlich aus dem Gedächtnis würden tilgen können. Dafür zeigte sich im Badezimmer die Tragödie in all ihrer makabren Pracht: die Wände der Badewanne verschmiert, ein Rasiermesser auf der Ablage, das Wasser rot gefärbt, die leblose Gina mit dem ruhigen Gesicht eines schlafenden Mädchens.
Héctor, der vor der Tür stand, hörte aufmerksam zu, was Castro ihm zu berichten hatte, während ein Kollege von der Spurensicherung letzte Beweismittel sammelte. Es war kein langer Bericht, das war gar nicht nötig. Regina Ballester war gegen sieben zum Flughafen gefahren, um ihren Mann abzuholen, aber das Flugzeug hatte Verspätung. Während der Wartezeit rief sie mehrmals ihre Tochter an, doch die ging nicht ans Telefon. Nach mehr als einer Stunde landete die Maschine von Salvador Martí schließlich, und gegen Viertel nach neun kehrten sie heim. Regina war sofort ins Zimmer ihrer Tochter hinaufgegangen, und da Gina nicht dort war, dachte sie, vielleicht hätte sie das Haus verlassen; doch als sieam Bad vorbeikam, bemerkte sie, dass die Tür einen Spalt offen stand und Licht brannte. Ihre Schreie, als sie Gina in einem Meer von Blut in der Wanne sah, alarmierten ihren Mann. Der rief gleich den Notarzt, auch wenn ihm bewusst war, dass nichts mehr seine einzige Tochter zum Leben erwecken konnte. Mangels anderer Hinweise lag der Schluss nahe, dass Gina Martí sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hatte.
»Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«
Leire nickte.
»Am Computer, nur zwei Zeilen. So etwas wie: Ich kann nicht mehr, ich muss es tun ... mein schlechtes Gewissen lässt mir keine Ruhe.«
»Schlechtes Gewissen?« Héctor stellte sich Gina vor, halb betrunken, empört, wie sie den im Fenster sitzenden Marc beobachtete. Wie sie zu ihm hinging, voller Groll, und ihn schubste, bevor der sich zu ihr umdrehen und sich wehren konnte. Das passte zusammen. Was er nicht glauben mochte, war, dass ebendieses Mädchen danach hinuntergegangen wäre und sich in das Bett des Jungen gelegt hätte, den sie liebte und den sie gerade getötet hatte, und dass sie dort geblieben wäre, schlafend oder wach, als wäre nichts geschehen. Er glaubte nicht, dass Gina Martí in der Lage gewesen wäre, derart kaltblütig zu handeln.
»Inspektor Salgado, man hatte mir gesagt, Sie seien in Urlaub.« Die Gerichtsmedizinerin, eine kleine, quirlige Frau, die für ihre Effizienz und ihre spitze Zunge berühmt war, wandte sich ihnen zu und unterbrach seine Gedanken.
»Ich habe Sie vermisst, Celia.«
»Dafür kommen Sie aber reichlich spät. Wir haben auf Sie gewartet, falls Sie es sich ansehen wollen.« Sie schaute hinein, mit der Ausdruckslosigkeit eines Menschen, der seit Jahren Leichen untersucht. »Es gibt einen Abschiedsbrief, wie ich höre?«
»Ja.«
»Dann habe ich dem wenig hinzuzufügen.« Doch ihr Ton und ihre gerunzelte Stirn deuteten auf etwas anderes.
Héctor betrat das Badezimmer und betrachtete den leblosen Körper. Ihm fiel wieder ein, wie Gina auf dem Sofa aus der Haut gefahren war und lauthals, unter dem herablassenden Blick ihrer Mutter, verkündete, dass sie und Marc sich geliebt hätten. Es hatte wie ein Triumph geklungen: Marc war nicht mehr da, um ihr zu widersprechen, und so konnte sie sich an diese Liebe klammern, ob eingebildet oder nicht. Mit der Zeit hätte sie ihre Erzählung gewiss noch abgewandelt; hätte Marcs Zurückweisung in jener letzten Nacht ausgespart, hätte aus ihm den verliebten jungen Mann gemacht, der ihr einen Kuss gab, liebevoll sagte, »warte im Bett auf mich, ich komme gleich«, und dann, bei einem für immer unbegreiflichen Unfall, in die Tiefe stürzte.
»Die Kollegin Castro sagte mir, Sie
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