Der Sommer der toten Puppen
eines Fitnessstudios im Zentrum der Stadt verabredet, und während er auf ihn wartete, dachte er, dass der Junge es mit dem Abnehmen wohl ernst nahm. Als dann jedoch ein nicht sehr großer, aber breitschultriger junger Mann auf ihn zukam, alles andere als fettleibig, dafür mit muskulösen Armen, welche die Ärmel seinesT-Shirts zu sprengen drohten, da musste er zweimal hinschauen, um ihn mit der Beschreibung in Verbindung zu bringen, die man ihm von Óscar Vaquero gegeben hatte. Natürlich waren zwei Jahre vergangen seit jenem Video, das zu Marcs Ausschluss und Óscars Schulwechsel führte. Auch hatte Letzterer, wenn man sich das Ergebnis ansah, die Zeit genutzt. Doch als sie dann, trotz der Wolken, die schon den Himmel bedeckten, auf einer Caféterrasse an der Straße saßen, konnte er feststellen, dass die Veränderung an Óscar nicht allein körperlicher Natur war. Héctor bestellte einen Espresso, und Óscar entschied sich nach kurzem Überlegen für eine Coca-Cola Zero.
»Du hast erfahren, was mit Marc Castells passiert ist?«, fragte Héctor.
»Ja.« Er zuckte nur kurz mit den Achseln. »Traurig.«
»Nun ja, ich glaube nicht, dass du ihn allzu sehr mochtest«, meinte der Inspektor.
Der Junge lächelte.
»Weder ihn noch die meisten anderen auf dieser Schule ... Aber das bedeutet nicht, dass ich mich freue, wenn einer stirbt.« Etwas im Tonfall seiner Stimme widersprach dem Gesagten. »Wir sind hier nicht in Amerika. Hier kommen die Außenseiter nicht mit einem Gewehr in die Schule und ballern die ganze Klasse nieder.«
»Mangels Waffen oder mangels Lust dazu?«, fragte der Inspektor in weiterhin lockerem Ton.
»Ich glaube nicht, dass ich ein solches Gespräch über mörderische Gelüste mit einem Polizisten führen muss ...«
»Auch Polizisten waren einmal Schüler. Aber im Ernst«, sagte er, wechselte den Ton und nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, »ist doch klar, so etwas wie die Sache mit dem Video lässt man nicht unbeschadet hinter sich.«
»Das da schadet Ihnen«, erwiderte der Junge und deuteteauf die Zigaretten. »Ich spreche nicht gerne darüber. Es kommt mir vor wie eine andere Zeit. Ein anderer Óscar. Aber klar, natürlich hat es mich fertiggemacht.« Er wandte den Blick ab, als interessierte er sich plötzlich für die Manöver eines Lieferwagens, der versuchte, an der Ecke gegenüber in eine Lücke einzuparken, die ganz offensichtlich zu eng war. »Ich war das schwule Dickerchen.« Er zeigte ein bitteres Lächeln. »Heute bin ich ein knackiger Gay. Ich versuche die Vergangenheit zu vergessen, aber manchmal wird sie wieder wach.«
Héctor nickte.
»Sie wird wieder wach, wenn du am wenigsten damit rechnest, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?«
»Wie ich schon sagte, wir waren alle einmal jung.«
»Ich habe noch Fotos aus der Zeit, um wenigstens mich nicht zu vergessen. Aber sagen Sie, was wollten Sie eigentlich von mir?«
»Ich versuche nur, mir ein Bild zu machen, wie Marc Castells war. Wenn jemand stirbt, reden alle gut von ihm«, sagte er, und er musste verwundert daran denken, dass in dem Fall der Spruch nicht stimmte.
»Tja ... Und jetzt suchen Sie jemanden, der ihn gehasst hat. Aber warum? War es denn kein Unfall?«
»Wir wollen den Fall abschließen, und wir können andere Möglichkeiten nicht ausschließen.«
Óscar schaute ihn verblüfft an.
»Aha. Aber da haben Sie sich, fürchte ich, in der Person geirrt. Ich habe Marc nicht gehasst. Weder damals noch jetzt. Er war einer der wenigen, mit denen ich gesprochen habe.«
»Und hat es dich nicht gewundert, dass er das Video ins Netz gestellt hat?«
»Herr Inspektor, das ist doch Unsinn. Marc hätte so etwasnie getan. Und er hat es auch nicht. Alle wussten es. Deshalb hat man ihn nur für ein paar Tage von der Schule verwiesen.«
»Dann hat er die Schuld für jemand anderen auf sich genommen?«
»Sicher. Im Gegenzug für Hilfe bei den Klassenarbeiten. Marc war nicht der Hellste, wissen Sie? Und Aleix hatte ihn in der Hand. Er hat für ihn die Prüfungen gemacht.«
»Warte, willst du damit sagen, Aleix Rovira hat das Video aufgenommen und ins Internet gestellt, und Marc hat für ihn die Schuld auf sich genommen?«
»Ja. Deshalb bin ich abgegangen. Die Schule war zum Kotzen. Aleix war die Nummer eins, der kluge Junge, unberührbar. Marc auch, aber weniger.«
»Verstehe«, sagte der Inspektor.
»Aber im Grunde hat dieser Idiot von Aleix mir einen Gefallen getan. Und ich glaube, es geht mir sehr viel besser als
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