Der Sommer der toten Puppen
Iris. In der E-Mail an Joana, auf Marcs Handy, jetzt in seinem Blog. Sie ist wie ein Gespenst.«
»Ein Gespenst, das übermorgen erscheint.« Leire seufzte. Sie war erschöpft. So erschöpft, dass ihre Muskeln sich, nach der Anspannung bei den Martís, allmählich lockerten.
»Ja. Aber es ist spät, morgen erwartet uns ein harter Tag.« Er sah sie fast liebevoll an. »Du solltest dich ausruhen.«
Da hatte er recht, dachte sie, auch wenn sie ahnte, dass sie heute nur mit Mühe würde einschlafen können. Sie fühlte sich langsam wohl mit diesem ruhigen Typ, der zwar etwas schweigsam war, aber verlässlich. Auf dem Grund seiner braunen Augen wohnte eine Traurigkeit, aber keine Bitterkeit. Eine gesunde Melancholie, wenn das denn etwas bedeutete.
»Ja. Ich muss zu meinem Motorrad.«
»Also bis morgen«, sagte er. Er ging ein paar Schritte, doch dann drehte er sich um und rief sie, als wäre ihm etwas Wichtiges eingefallen. »Leire, du hast mich vorhin gefragt, ob ich glaubte, dass Gina Marc aus Liebe getötet hätte. Nein, noch nie hat jemand einen anderen aus Liebe getötet, das gibt es nur in den Tangos. Man tötet aus Habgier, Verzweiflung oder Neid. Die Liebe hat damit nichts zu tun.«
22
Héctor betrat sein Dienstzimmer, als wäre er ein Eindringling. Er hatte sich nicht überwinden können, nachhause zu gehen, und wollte lieber im Kommissariat das Blog von Marc Castells lesen. Er versuchte das Gefühl abzuschütteln, er tue etwas Unerlaubtes, aber es gelang ihm nicht ganz. Er machte den Computer an, erinnerte sich an sein Passwort – kubrick7 – und gab im Browser die Adresse des Blogs ein, während er sich sagte, dass es in diesen Tagebüchern des einundzwanzigsten Jahrhunderts offenbar keine Schamgrenzen mehr gab. Früher, noch auf Papier, waren sie etwas Privates, was nur der Betroffene selbst las, man konnte ihnen alle Geheimnisse anvertrauen. Heute dagegen ... Du bist eben altmodisch, Salgado, dachte er, während die Seite sich öffnete. Meine Sachen (vor allem weil ich nicht glaube, dass sie jemanden interessieren!). Eine gute Überschrift, auch wenn es einer gewissen Ironie nicht entbehrte, dass Marcs Sachen jemanden interessierten, nachdem er gestorben war.
Soweit er sehen konnte, hatte Marc als Blogger angefangen, als er nach Dublin ging, wahrscheinlich um mit dem Mädchen zu kommunizieren, das seine beste Freundin war. Die hatte fast alle seine Einträge ausführlich kommentiert, Einträge mit vielen Fotos: sein Zimmer in einem Dubliner Studentenwohnheim, der Campus, regennasse Straßen, bunte Türen in düsteren georgianischen Häusern, weite Parkanlagen, Bierkrüge, Mitschüler mit diesen Krügen in der Hand. Marc verwandte nicht viel Zeit aufs Schreiben, die meisten seiner Texte waren kurz und betrafen so spannende Aspekte wie das Wetter – immer regnerisch –, den Unterricht – immer langweilig – und die Partys – immer reichlich Alkohol.Je mehr es ihn selber langweilte, desto seltener wurden sie.
Héctor scrollte nach unten, bis er auf ein Foto stieß, das seine Aufmerksamkeit weckte. Es zeigte eine blonde junge Frau vor einer Steilküste, das Haar im Wind wehend. Er musste gleich an Die Geliebte des französischen Leutnants denken, die ihren Kummer an wellengepeitschten Küsten spazieren führt. Unter dem Foto stand: »Ausflug nach Moher, 12. Februar.« Gina hatte keinen Kommentar geschrieben. Der nächste Eintrag war sieben Tage später datiert, und er war mit Abstand der längste des ganzen Blogs. Darüber stand als Titel: In Erinnerung an Iris.
Schon seit langem denke ich nicht mehr an Iris, nicht an den Sommer, in dem sie starb. Ich muss versucht haben, das alles zu vergessen. So wie ich auch die Albträume hinter mir gelassen habe. Und jetzt, wo ich mich erinnern will, kommt mir nur der letzte Tag in den Sinn, als hätten diese Bilder alle vorherigen gelöscht. Ich schließe die Augen und versetze mich in das große alte Haus, den Schlafsaal mit den leeren Betten, die auf die Ankunft der nächsten Kindergruppe warten. Ich bin sechs Jahre alt und im Ferienlager, und ich kann nicht schlafen, weil ich Angst habe. Nein, falsch. An dem Morgen war ich richtig tapfer. Ich habe die Regeln missachtet und mich in die Dunkelheit getraut, nur um Iris zu sehen. Aber sie war ertrunken, trieb im Schwimmbecken, umringt von einem Kranz toter Puppen.
Héctor konnte nicht anders, ihn schauderte, und sein Blick suchte nach dem Schwarzweißfoto des blonden Mädchens. Und in diesem schummrigen
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