Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
wusste Rolo.
„ Steig doch die Tausend Stufen runter“, trällerte Driftwood.
„ Alte Mienen und Schächte“, fuhr Rolo fort.
„ Denn unter Tage weiß Bescheid.“
„ Wohl zum Teil aus dem Mittelalter oder älter.“
„ Die Zeit steht still.“
„ Gefördert wird da immer noch.“
„ Bis heute ist das so geblieben.“
„ Und wann wurde Erzingen gegründet?“, bohrte Socke weiter.
„ Weiß ich nicht genau. Aber die Stadt ist sehr alt.“
„ Das ist sie! Das muss sie sein! Die Stadt namens Tod. Erzingen also.“ Driftwood schlug das Buch so kräftig zu, dass der Luftstoß das Laub aufwirbelte.
„ Wo Hammer hallt im Erdenreich!“, rief er. „Worauf warten wir noch? Auf geht’s!“
Dorn schlich voran, dicht gefolgt von Anacon und Darragh. Joshua bildete die Nachhut. Nahezu geräuschlos bewegten die vier verhüllten Gestalten sich durchs Dickicht. Bis hier hatten sie nichts entdeckt. Aber die vier Neolinga waren erfahrene Jäger. Sie wussten, dass Geduld dazugehörte, wenn man erfolgreich sein wollte. Joshua untersuchte gerade ein paar Fußabdrücke. Nachdenklich fuhr er mit den Fingerspitzen über die Kontur im Boden. Die konnte nicht von Rolo stammen. Grellon hatte ihnen ausführlich erklärt, dass sein Sohn Turnschuhe trug. Der Beschreibung nach waren diese einzigartig im Nachtschattental. Er schaute nach den anderen. Sie flüsterten miteinander.
Wenn jemand was entdeckt hat, sollte ich das auch wissen, dachte Joshua. Anacon und Darragh verschwanden im Dickicht, als sie ihn kommen sahen.
„ Hör zu!“, zischte Dorn. „Es gibt eine Planänderung! Der Junge gehört mir. Ist das klar!“ Dorns helle Schlangenaugen funkelten kalt.
„ Was soll das heißen? Was hast du vor?“ Joshua ließ sich nicht so leicht einschüchtern.
„ Was ich sage! Komm uns nicht in die Quere, und wir werden alle wohlbehalten nach Hause zurückkehren.“
„ Willst du mir drohen?“
„ Dir drohen? Ich will dich nur warnen. Es wäre doch jammerschade, wenn sich ein Pfeil verirrt. Nicht war, Bruder Joshua?“ Ein kaltes Lächeln umspielte Dorns Lippen.
Joshua hatte Mühe, seinen Zorn zu beherrschen. „Darüber sprechen wir noch!“
„ Ganz wie du meinst, Bruder Joshua“, hauchte Dorn mit unverhohlenem Hohn. „Ganz wie du meinst.“ Er drehte sich um und ging weiter.
„ Was heißt das, du willst uns nicht begleiten? Du bist unser Gefangener!“ Driftwood war außer sich.
„ Das heißt, dass ich nicht mit euch gehe“, erwiderte Rolo. „Dann zwing ich dich dazu, Nacktschnecke.“
„ Tu das. Bei der ersten Gelegenheit werde ich euch verraten.“
„ Aber wir … du … ich … der Meister“, stammelte Driftwood.
„ Es tut mir echt leid“, warf Rolo dazwischen. „Aber ich bin nicht zum Spaß nach Neunseen gekommen. Ich habe hier schon genug zu tun.“ Er dachte an den Streit mit seinem Vater. Und an seine Mutter.
Socke trat an seine Seite. „Das ist jammerschade. Aber Rolo hat recht. Wir können ihn nicht zwingen.“
„ Aber wir kennen den Weg nicht“, klagte Driftwood. „Und er weiß alles. Alles!“
„ Ich verrate niemanden was. Mein Ehrenwort.“
„ Ehrenwort? Papperlapapp! Du lässt uns hängen!“
„ Ich lass euch hängen? Ihr habt mich entführt! Was hast du erwartet?“
„ Nichts. Nichts habe ich erwartet, Mensch.“
„ Jetzt komm mir nicht so!“ Rolo wandte sich kopfschüttelnd ab. Sein Blick fiel auf die Karte, die Socke in den Sand gezeichnet hatte. „Ich kann euch aber trotzdem helfen.“
„ Wie denn?“, fragte Socke, der sehr betreten dastand.
„ Ich habe eine Karte. Im Auto. Das steht am Tor von Neunseen.“
„ Auto?“
„ Das erkläre ich euch, wenn wir da sind. Wie wäre es: Ihr bringt mich nach Neunseen, weckt Hwarf auf, und ich gebe euch die Karte?“
„ Das würde uns sicher helfen. Und dass wir Hwarf aufwecken, haben wir ja versprochen. Oder, Drift?“
Doch Driftwood sagte nichts. Er saß unter der Eibe und kraulte Kotze den Bauch.
„ Ich lösche nur noch das Feuer“, seufzte Socke.
Grellon war kein Mann des Waldes. Er stolperte über die erste Wurzel und seine Kapuze verfing sich in einem tief hängenden Ast. Der Ast gab nach, schnellte dann zurück und zog Grellon mit sich. Erschrocken ruderte er mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings hin. Seine linke Sandale flog in hohem Bogen davon. Der junge Kilian konnte sich ein Lachen nur mühsam verkneifen. Grellon setzte sich auf und zupfte welkes Laub aus seinem
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