Der Sommer des Commisario Ricciardi
unverhohlene Aufmerksamkeit der Neapolitaner amüsierte sie. Ihr gefiel außerdem die einfache Eleganz der Frauen, die ihr auf der Straße begegneten, auch der weniger wohlhabenden, die sich trotz ihrer beschränkten Mittel um ein ansprechendes Erscheinungsbild bemühten. Nicht alle wohlgemerkt.
In der Nähe der Piazza Trieste e Trento kreuzte sie eine hochgewachsene junge Dame mit runder Hornbrille, die vor ihr rasch die Straße überquerte. Sie verfügte über eine natürliche Anmut und einen schönen Körper; man erahnte ihre langen Beine. Leider, dachte Livia, strich sie ihre Vorzüge jedoch nicht heraus. Stattdessen verschandelte sie sich mit einem altmodischen Kleid, einer Omafrisur und vor allem mit dem mürrischen Ausdruck, der ihr nicht besonders gut zu Gesicht stand. Livia überlegte flüchtig, dass sie vielleicht irgendeinen Grund hatte, gereizt zu sein.
Sie selbst fühlte sich glücklich und mit aller Welt im Einklang. Lächelnd steuerte sie die Tischchen des Gambrinus an.
XVIII Enrica hatte das Hutgeschäft soeben betreten und Schwager und Angestellte gegrüßt. Da gerade einige Kunden zu bedienen waren, wollte sie kurz warten, bis ihr Vater frei war. Sie liebte ihn sehr, und es tat ihr aufrichtig leid, von ihm Rechenschaft zu verlangen, aber es musste sein. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Nachgiebigkeit und mangelnde Streitlust als Blankovollmacht dazu angesehen wurden, ihr zukünftiges Leben für sie zu bestimmen.
Ihre Verschlossenheit machte es Enrica unmöglich, den Eltern anzuvertrauen, dass sie sich von einem unbekannten Mann angezogen fühlte. Und erst recht nicht, dass sie endlich, ein Jahr nachdem sie bemerkt hatte, dass jeden Abend jemand am Fenster gegenüber stand und zu ihr herübersah, auch Blickkontakt mit ihm hatte.
Es stand außer Frage, je mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, zu gut kannte sie deren Starrköpfigkeit. Sie hätte bloß alles daran gesetzt, um Enrica von dieser romantischen Fantasterei abzubringen, die sicher zu nichts führen würde. Die Worte der Mutter klangen ihr förmlich in den Ohren. Sie würde wieder auf ihren fünfundzwanzig Jahren herumreiten und ihr eine Zukunft in Einsamkeit und Elend in Aussicht stellen. Enrica kümmerte es nicht, was die anderen dachten, nicht einmal ihre Eltern. Sie würde warten, zur Not auch hundert Jahre lang.
Denn eines wusste sie: Für Luigi Alfredo Ricciardi gab es nur sie auf der Welt. Er musste das nur begreifen und sich dazu entschließen, sie anzusprechen.
Während sie also darauf wartete, dass ihr Vater eine fette Dame zu Ende bediente, die sich nicht für die passende Stofffrucht auf ihrem Hut entscheiden konnte, läutete die Türglocke und Sebastiano Fiore kam herein.
Als Ricciardi das Gambrinus betrat, war seine Laune deutlich schlechter als noch ein paar Minuten zuvor beim Abschied von Maione. Nicht ohne Grund.
Auf dem letzten Stück Weg, dort, wo die Via Toledo in die Piazza Trieste e Trento mündete, war ihm ausgerechnet der Kerl vor die Füße gelaufen, der seine schlaflose Nacht zu verantworten hatte, derselbe, den er am Abend zuvor mit Enrica hatte flüstern sehen. Er trat aus der Tür eines Ladens auf die Straße, blickte dabei aber über die Schulter zurück ins Ladeninnere, da er sich von seiner Mutter verabschiedete. So kam es zum Zusammenstoß.
Der Mann war groß, jedenfalls größer, als er von Weitem gewirkt hatte, und auch schwer; die Kollision brachte den Kommissar ins Straucheln. Mit einem flüchtigen Blick auf Ricciardi murmelte der Jüngling hastig eine Entschuldigung, merkte aber, dass sein Gegenüber ihn kühl und ausdruckslos musterte. Ein wenig verunsichert entschuldigte er sich ein zweites Mal, ging weiter und betrat das nächste Geschäft.
Sofort spürte Ricciardi wieder den Stich im Magen, schmerzhafter als je zuvor. Der Mann erschien ihm bildhübsch, sportlich, gut gekleidet. Mit seinem geschulten Blick bemerkte der Kommissar gleich das Seidenhemd, zweifarbige Budapester, die goldene Krawattennadel und ein edles Parfum. Auch die Gardenie im Knopfloch und der Strohhut entgingen seiner Aufmerksamkeit nicht – er hätte ohne Probleme eine vollständige Personenbeschreibung zu Protokoll geben können.
Die Begegnung, oder vielmehr das Aufeinandertreffen, hinterließ bei Ricciardi ein Gefühl verhängnisvoller Unzulänglichkeit; ihm wurde klar, dass jede Frau einen solchenMann ihm selbst in jedem Fall vorziehen würde. Zum ersten Mal versuchte er, sich von außen zu betrachten,
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