Der Sommer des Commisario Ricciardi
und fand sich schmächtig, traurig, schlecht gekleidet: Er trug keinen Hut, dafür staubige Schuhe, da er stets zu Fuß ging, und eine alte, abgenutzte Krawatte ohne Nadel.
Nun ärgerte er sich über sich selbst, weil er den jungen Mann als Rivalen angesehen hatte. Er hatte nicht die leiseste Absicht, mit ihm in einen Wettstreit zu treten, zumal ein möglicher Sieg seiner zukünftigen Lebensgefährtin nur Schmerz und Leid gebracht hätte: Sie hätte seinen Fluch mit ihm teilen müssen. Umso besser, dachte er also, dass Enrica einen gut aussehenden, reichen, netten Partner gefunden hatte, der sie sicherlich glücklich machen würde.
Ihn persönlich konnte der Gedanke natürlich nicht trösten, und so betrat er den kühlen Innenraum des Gambrinus in stiller Verzweiflung.
An einem sorgfältig ausgewählten Tischchen wartete eine Frau voller Hoffnung. Vor allem hoffte sie, dass Ricciardi möglichst bald in dem Café auftauchen würde, denn sie litt bereits unter der allzu großen Aufmerksamkeit anonymer Bewunderer. Als Livia beschlossen hatte, sich die Wartezeit mit Rauchen zu vertreiben, waren augenblicklich fünf kleine Feuer vor ihr aufgeflammt wie Kerzen vor einem Heiligenbild. Besonders ein ganz in Weiß gekleideter junger Mann hatte sie fest im Blick und fand sich selbst scheinbar unwiderstehlich. Also hatte Livia, der solche Situationen nicht neu waren, ihn ihrerseits fixiert, bis er aufgestanden und zu ihr gekommen war, um zu fragen:
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Worauf sie konterte:
»Auf keinen Fall.«
Die Antwort hatte den Mann verblüfft. Es kam nicht oft vor, dass man eine so reizende Dame allein in einem Lokal sitzen sah – eine wahrhaft günstige Gelegenheit. Und zum anderen wollte er seinen mühsam über die Jahre erworbenen Ruf als Frauenheld nicht aufs Spiel setzen, indem er sofort nachgab. Daher blieb er hartnäckig:
»Signora, Sie sind einfach zu schön, um allein zu sein. Das kann ich nicht zulassen. Daher werde ich trotzdem Platz nehmen und Ihnen die Entscheidung überlassen, ob Sie hier bleiben oder weggehen.«
Livia schaute zur Tür: In diesem Augenblick sah sie Ricciardi hereinkommen.
Strahlend und ohne den Kommissar aus den Augen zu lassen sagte sie:
»Das wird sich nicht lohnen: Da ist schon meine Begleitung.«
Sebastiano Fiore rückte sich die Krawatte zurecht und betrat das Geschäft der Familie Colombo, immer noch ein wenig besorgt wegen des merkwürdigen Blicks, den ihm der Unbekannte zugeworfen hatte. Ich habe ihn doch bloß gestreift , überlegte er. Doch da er nicht dazu neigte, einem Gedanken lange nachzuhängen, setzte er sogleich wieder das offene, liebenswürdige Lächeln auf, das er noch kurz zuvor getragen hatte.
Zuerst hatte er protestiert, als seine Mutter ihn zu dem Abendessen bei den Colombos nötigte; er wollte eigentlich mit Freunden ausgehen. Wenn seine Mutter sich allerdings etwas in den Kopf gesetzt hatte, war dem unbedingtFolge zu leisten. Andernfalls würden ihm die zu erwartenden finanziellen Konsequenzen ernsthafte Probleme bereiten, besonders jetzt, da er nicht viel Glück beim Kartenspiel und ein paar größere Spielschulden als gewöhnlich hatte. Daher war er bereit gewesen, sich den Notwendigkeiten zu fügen.
Zu seiner Freude hatte das Essen bei den Colombos ihn dann positiv überrascht: Die junge Frau, die er kennenlernen sollte, war alles andere als hässlich; sie hatte lange Beine und ein außergewöhnlich hübsches Lächeln. Zwar kleidete sie sich wie eine Fünfzigjährige und war nicht gleich von ihm geblendet, doch das konnte seinen Plänen nur zugutekommen. Sebastiano hatte nämlich sehr klare Absichten: Er wollte weiterhin bequem auf Kosten seiner wohlhabenden Eltern leben, ohne an seinem Umgang und seinen Gewohnheiten auch nur das Mindeste zu ändern.
Dazu musste er jedoch, zumindest dem Anschein nach, den Ambitionen seiner Mutter nachgeben. Und wie könnte er das besser als durch eine Verlobung mit Enrica Colombo, einem stillen, zurückhaltenden und unaufdringlichen Mädchen? Seine Mutter würde glücklich sein, ihm weiterhin genug oder sogar noch etwas mehr Geld geben, da eine Verlobung natürlich Ausgaben für Blumen, Geschenke und anderes mit sich brachte. Eine mögliche Zusammenlegung der beiden Geschäfte war vom wirtschaftlichen Standpunkt aus sehr interessant. Vor allem könnte er die zukünftige Führung des Ladens seiner Braut überlassen und würde weiterleben können wie bisher: ohne zu arbeiten.
Also hatte er
Weitere Kostenlose Bücher