Der Sommer des Commisario Ricciardi
Herzogin, Gott hab sie selig, sie hatte dieselbe Nase wie ihr Sohn. Und der Ring ist sicher das verschwundene Schmuckstück.«
Ricciardi deutete ein Lächeln an.
»Dir entgeht wohl nichts, was? Auch nicht bei Hunger und Hitze. Das einzig Merkwürdige ist meiner Ansicht nach die Stille. Wenn es einen Kampf gab, worauf die Prellungen am Körper hinweisen, muss es auch einen Streit gegeben haben, immerhin hat der Mörder ihr das Kissen aufs Gesicht gedrückt, damit sie nicht schreien konnte. Wie kommt es, dass niemand etwas gehört hat, weder drinnen noch draußen? Es war Nacht.«
Maione schüttelte lächelnd den Kopf.
»Sie unterschätzen die Straßenfeste, Commissario, manmerkt, dass Sie nicht von hier sind. Die Feste sind eins der wenigen Volksvergnügen: Man singt und tanzt und macht Krach bis zum Morgengrauen. Bei dem Lärm versteht man im ganzen Viertel sein eigenes Wort nicht mehr. Und das Fest von Santa Maria La Nova ist besonders bekannt. Es gibt ein Freudenfeuer und eine Art Tarantellawettbewerb, wer aufhört zu tanzen, scheidet aus. Die jungen Frauen verbringen Monate damit, ihre Tanzkleider herzurichten. Im Vorzimmer der Herzogin hätten sie getrost den gesamten dritten Akt der Traviata singen können, und keiner hätt’ was gehört, nicht mal im Nebenraum.«
Ricciardi schien nicht überzeugt.
»Na gut, dann hat man also nichts gehört. Aber das Haus ungesehen zu betreten und zu verlassen ist nicht gerade einfach, das Fest war ja direkt vor dem Eingangstor. Ist es denn möglich, dass niemand etwas bemerkt hat? Ich glaube kaum, dass der Mörder als Tarantellatänzerin verkleidet war. Das passt alles nicht zusammen: Manches lässt auf ein geplantes Verbrechen schließen, anderes auf einen plötzlichen Streit.«
Maione wischte sich die Stirn ab und zuckte mit den Schultern.
»Das ist nicht gesagt. Wenn der Mörder schnell war, konnte er ungestört rein und raus. Ganz bestimmt waren Sciarras Bälger am Essen, wie üblich, draußen wurde getanzt und das Tor stand offen. Oder der Mörder kann ja auch mit der Herzogin reingekommen sein. Wir müssen Capece noch vernehmen, nicht? Der gehörte ja wohl sozusagen zur Familie.«
»Du hast recht. Solange wir Capece nicht gehört haben, kann man nichts sagen. Am späten Nachmittag gehen wirzum Roma und reden mit ihm, bei der Zeitung arbeitet man abends, zur Stunde wird dort niemand sein. Ich geh jetzt ins Gambrinus eine Sfogliatella essen. Und du, spielst du immer noch den Fakir? Sieh zu, dass du nicht wie der berühmte Esel endest: Als er schließlich gelernt hatte, nichts zu essen, ist er gestorben.«
Maione schnaubte.
»Ja, ja, machen Sie sich nur lustig. Schlimm ist das, diese ganze Schwitzerei, und wie die Jacke an mir klebt. Demnächst krieg ich vielleicht noch einen richtigen Fressanfall. Gehen Sie ruhig, lassen Sie’s sich gutgehen; ich warte solange im Präsidium und mach den Faulpelzen da drinnen Beine. Bis später.«
Livia hatte sich von dem Kutscher auf Höhe des Largo della Carità absetzen lassen; sie wollte ein paar Schritte laufen und die Stadt genießen.
Auch die kurze Droschkenfahrt war angenehm gewesen. Sie hatte den Hutschleier hochgezogen; die frische Luft im Gesicht, der Duft nach Meer und Blumen, waren eine unerwartete und unbezahlbare Wohltat. Die Hitze machte ihr nichts aus; sie hatte zu lange auf diesen Morgen gewartet, um ihn sich mit Betrachtungen übers Wetter zu verderben. Sofern nichts dazwischenkam, würde sie schon bald den Grund ihrer Neapelreise wiedersehen.
Sie hatte den Zeitpunkt sehr sorgfältig berechnet, denn sie wollte kein Risiko eingehen. Sie würde schon vor der Uhrzeit im Gambrinus eintreffen, zu der Ricciardi ihres Wissens nach dort war, um seinen schnellen, einsamen Imbiss einzunehmen. Diesmal allerdings würde er Gesellschaft haben, auch wenn er nicht damit rechnete. Die Straße war genauso, wie sie sich daran erinnerte: breit und voller Menschen. Ein paar zerlumpte, braungebrannte Kinder drängten sich um sie herum und baten um ein wenig Geld. Lachend kramte sie in ihrer Tasche nach ein paar Münzen und warf sie weit von sich weg, dass es nur so klimperte und in der Sonne blitzte; die Straßenkinder stürzten sich schreiend auf das Kleingeld wie ein Schwarm Fische auf ein Stückchen Brot.
Entlang des Weges zog die elegante Frau die Blicke von mindestens vier Männern auf sich, die ihr nachpfiffen und ihre Schönheit bewundernd kommentierten. Sie war es gewohnt, Beachtung zu finden, aber die typische
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