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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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sich, sobald er das Mädchen auf der Straße vorbeigehen sah, sofort gekämmt und ihre Verfolgung aufgenommen, um sie zu einem Kaffee einzuladen.
    Ins Gambrinus selbstverständlich.
     
    Ricciardi hatte erst kürzlich seine Gewohnheiten geändert und setzte sich nun nicht mehr an seinen Stammtisch im Innern des Cafés, sondern draußen unter die Markise.
    Der Grund für diese Veränderung war aber nicht die mörderische Hitze: Vor genau einem Monat hatte ein betrogener Ehemann beschlossen, sich Genugtuung zu verschaffen, und den Liebhaber seiner Frau mit einem Kopfschuss ermordet. Der Unglückselige, ein junger Rechtsanwalt, hatte zum Zeitpunkt seines vorzeitigen Ablebens mit Zeitung und Kaffee ausgerechnet am Tisch direkt neben dem gesessen, wo Ricciardi täglich seinen Mittagsimbiss einnahm. Der Kommissar war zwar nicht zugegen, als die Unglückstat sich ereignete, sah aber von nun an den Rechtsanwalt, dessen eine Gesichtshälfte zu einem Haufen Blut und Knochenstückchen degradiert war, klar und deutlich weiter seine Zeitung lesen und hörte ihn dabei murmeln:
    »Wie lange braucht sie denn, um den Hornochsen loszuwerden und herzukommen?«
    Stattdessen war ausgerechnet besagter Hornochse den Mann selbst losgeworden, und zwar für immer. Jetzt konnte er dafür in irgendeiner dunklen Zelle über Treue und Rache meditieren.
    Da der Anblick seinem Appetit nicht zuträglich war, wanderte Ricciardi nach draußen aus, was ihm, der seine Gewohnheiten pflegte, nicht leicht fiel. Heute allerdings waren alle Tische auf dem Bürgersteig besetzt, und er sahsich gezwungen, drinnen nach einem Platz zu suchen. Nun hoffte er bloß, dass nicht ausgerechnet der Tisch des Toten frei war: Er konnte gut auf Gesellschaft verzichten, und erst recht auf eine so monotone Unterhaltung.
    Bereits auf der Türschwelle roch er das Parfum. Seine Sinne kamen seiner Erinnerung zuvor und, umhüllt von dem betörenden Duft, sah er ihr Bild, die klaren Augen und den geschmeidigen Gang schon vor sich, noch bevor er an Livia dachte. Er schaute sich um und erblickte sie lächelnd in der dem Tisch des Toten gegenüberliegenden Ecke. Genau wie er schien sie auf jemanden zu warten. Neben ihr stand ein weiß gekleideter Herr, der seine Hand auf die Rückenlehne eines Stuhls gelegt hatte und recht vertraulich tat.
    Ricciardi erfasste die Situation auf den ersten Blick:
    Die Haltung des Mannes, sein ganzes Auftreten zeugten sofort von einem unerwünschten und aufdringlichen Benehmen. Livia dagegen sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an und bat ihn stumm um Hilfe. Ohne nachzudenken trat er zu dem Tisch und hörte, noch bevor er etwas sagen konnte, Livias Stimme, so harmonisch und klangvoll, wie er sie in Erinnerung hatte:
    »Sehen Sie, das ist der Herr, auf den ich gewartet habe. Und der Grund, aus dem ich hier bin.«
     
    Dass sie mit Sebastiano auf dem Weg zum Gambrinus war, hatte für Enrica etwas Surreales: Eigentlich war sie zu ihrem Vater gekommen, um ihm klar und deutlich zu sagen, dass sie den jungen Mann nicht wiedersehen wollte, und stattdessen gingen sie nun gemeinsam ins Café, wie ein Pärchen beim ersten Rendezvous.
    Als Sebastiano das Geschäft unter einem simplen Vorwand betreten hatte, war sie wie vom Blitz getroffen. Auf seine Einladung hin hatte sie Giulio flehentlich angesehen, doch der hatte ihr mit einem väterlichen Lächeln seine Erlaubnis erteilt – nicht zuletzt um die unausweichliche Aussprache mit seiner Tochter noch ein Weilchen aufzuschieben. So kam es, dass sie das kurze und sonnenüberflutete Stückchen Weg jetzt in völlig unerwarteter Begleitung zurücklegte. Noch dazu hatte sie es nicht geschafft, den Arm, den Sebastiano ihr mit seinem stupiden Lächeln gleich draußen vor dem Laden angeboten hatte, abzulehnen.
    Sie war böse auf sich selbst, weil sie sich nicht getraut hatte, die Einladung auszuschlagen oder sich wenigstens schnell genug eine Ausrede auszudenken; auf ihren Vater, weil er es zugelassen hatte, dass dieser Idiot sich solche Freiheiten herausnahm; auf ihre Mutter, weil sie das Komplott geschmiedet hatte, in das sie nun verwickelt war; und auf Ricciardi, weil er so furchtbar lange brauchte, um etwas zu unternehmen.
    Sie hoffte, zumindest niemandem zu begegnen.

    XIX    Livia und Ricciardi sahen sich lange schweigend in die Augen. Livia hätte keine bessere Antwort auf ihre Zweifel, welche Gefühle ein Wiedersehen in ihr auslösen würde, finden können: Sie spürte das vertraute und mittlerweile beinahe in

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