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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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einsetzende Stille wurde von den Schreien derKinder und der Möwen, die träge am Himmel kreisten, unterbrochen. Ricciardi dachte, dass Adriana Musso di Camparino, wer auch immer sie gewesen sein mochte, jetzt nur noch ein elendes, schlecht zusammengeflicktes Etwas auf einem Tisch im Leichenschauhaus war. Und dass von ihr nur ein Nebelbild blieb, das er allein sehen konnte. Ein Bild, das immerzu einen sinnlosen Satz sprach und aus der Stirn blutete. Er wiederholte seine Frage:
    »Wo waren Sie Samstagnacht?«
    Ettore fuhr fort, als ob er ihn nicht gehört hätte:
    »Sie verstehen wohl, dass jeder sie an meiner Stelle gehasst hätte. Um sie nicht sehen zu müssen, bin ich hierher nach oben gezogen. Und von hier oben aus beobachte ich die Stadt und die Menschen, die sie bevölkern, und meine Pflanzen. Und ich lerne viel. Wir leben in schweren Zeiten, Commissario. Zeiten, an die man sich immer erinnern wird. Das Schicksal wird bald besiegelt sein, das ist allen klar, es reicht zu lesen, hinzuschauen, Radio zu hören. Die Kinder da unten, sehen Sie, die wissen von nichts. Sie leben wie kleine Tiere, wie ihre Mütter und Väter, denen nicht einmal klar ist, ob sie lebendig sind oder tot. Doch es reicht schon, wenn jeder dort bleibt, wo er hingehört. Jeder seinen Part spielt. In der Welt von morgen ist kein Platz für Täuschungen, folglich auch nicht für Frauen wie die unbeweinte verstorbene Gemahlin meines Vaters.«
    Maione schwitzte stumm unter seinem Hut. Es wunderte ihn, dass der Mann sich nicht schämte, bestimmte Dinge auszusprechen, nicht einmal vor zwei Unbekannten. Dass sie Uniform trugen, zumindest er, veranlasste Leute wie Musso wohl zu der Annahme, dass auch sie Anhänger des Regimes seien. Der Brigadiere glaubteauch, dass all das sinnlose Geschwätz nur dazu dienen sollte, von der Frage des Kommissars abzulenken, der sich jedoch ganz sicher nicht von seinem Kurs abbringen ließ.
    »Mein Herr, ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Ich bitte Sie, mir zu antworten.«
    Ettore wandte sich zu ihnen um und sah Ricciardi ins Gesicht. Jetzt lächelte er nicht mehr.
    »Nicht ich habe sie umgebracht, bedauerlicherweise, wenn es das ist, was Sie wissen möchten. Dabei hätte ich es tun sollen und manches Mal tun können in diesen zehn Jahren. Und Gott ist mein Zeuge, dass ich es auch gewollt hätte. Aber ich habe sie nicht getötet. Vielleicht aus Feigheit, vielleicht auch aus Mut. Ich weiß es nicht. Und als sie starb, falls sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag starb, war ich nicht zu Hause. Ich kehrte bei Morgengrauen zurück und kam direkt hierher.«
    Maione schien zu dösen; er sah stets so aus, wenn er hochkonzentriert war. Nun erkundigte er sich:
    »Verzeihen Sie, eine Frage: Besitzen Sie eine Pistole? Oder wissen Sie, ob Ihr Vater eine besitzt? Ich meine, gibt es Waffen im Haus?«
    »Nein. Zumindest keine Schusswaffen. Wenn ich mich recht entsinne, müsste irgendwo ein Säbel sein, mein Vater war Offizier. Aber keine Pistolen.«
    Auf Ettores Worte folgte Stille. Sogar das Insektensurren verstummte einen Augenblick.
    »Und wo waren Sie in jener Nacht?«
    Der Mann hielt Ricciardis durchdringendem Blick stand.
    »Das, Commissario, geht Sie nichts an. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben – ich muss mich meinen Pflanzen widmen. Guten Tag.«
    Auf ihrem Rückweg durch das Arbeitszimmer fiel Ricciardi eine große vergilbte und von Hand kolorierte Fotografie auf, die gerahmt am Ehrenplatz über dem Schreibtisch hing. Sie zeigte eine ältere Frau mit stolzem Blick, markanter Nase wie der Ettores und derselben Form des Mundes. In den unter der Brust gefalteten Händen hielt die Frau einen Rosenkranz.
    Am Ringfinger ihrer linken Hand sah man einen goldenen Ring mit Adelswappen.

    XVII    Als er durch das Schaufenster Enrica näherkommen sah, dachte Giulio Colombo, wie sehr sie ihrer Mutter glich: Innerhalb von nur zwei Tagen musste er zwei Angriffe auf seinen Seelenfrieden über sich ergehen lassen, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen.
    Seiner Tochter entgegenzutreten erschien ihm schwieriger, da er sich ihr gegenüber schuldig fühlte. Der gestrige Abend war kein Erfolg gewesen – hauptsächlich wegen Enricas beharrlichem Schweigen. Sie hatte fast die ganze Zeit über schmollend zum Fenster hinausgeschaut, obwohl ihre Mutter sich redlich bemüht hatte, sie ins Gespräch einzubeziehen, und nicht müde wurde, ihre häuslichen Talente und ihre Bildung in den höchsten Tönen zu loben. Auf ihn selbst hatte

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