Der Sommer des Kometen
Hochzeit seines Vaters aus der Lehre in Bergen zurückgekommen. Vier Jahre war er fort gewesen und inzwischen erwachsen, aber doch immer noch der gleiche energische, stets freundliche Junge. Er steckte voller Ideen und brachte einträgliche neue Kontakte in den Norden und bessere zu den englischen Textilmanufakturen mit. Vielleicht entschied er manchmal ein wenig forsch, aber das konnte den Geschäften, die schon lange im alten Trott liefen, nur guttun.
Claes Herrmanns, 45 Jahre alt und Herr eines der ältesten und größten Handelshäuser in Hamburg, dachte zwar nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen, aber seine Aufgaben in der Commerzdeputation waren zeitraubender, als er vor der ehrenvollen Wahl angenommen hatte. Und natürlich wünschte er sich viel mehr Zeit für Anne. Seine Hoffnung, Christian werde sich als fähig erweisen, einen Teil der Geschäfte selbständig zu führen, war nicht enttäuscht worden. In ein paar Jahren würde Christian genug Erfahrung haben, um die Grenze zwischen kaufmännischem Wagemut und Leichtsinn besser zu erkennen, und bis dahin konnte das eine oder andere falsch eingeschätzte Geschäft das Haus Herrmanns kaum ruinieren.
Er selbst war nicht anders gewesen, als er vor mehr als zwei Jahrzehnten von seiner Lehre in London ins väterliche Kontor zurückkehrte. Und wie an die Stürme seiner ersten Jahre als Hamburger Kaufmann erinnerte er sich auch daran, dass er zu viele Fragen seines Vaters stets als erdrückend empfunden hatte.
«Gut, Christian, also morgen. Wenn wir am Vormittag das Nötige besprochen haben, kannst du uns auch gleich an der Börse vertreten.»
Er hatte erwartet, dass Christian sich über diese Auszeichnung freuen würde, doch sein Sohn nickte nur und beugte sich wieder über die Papiere.
«So heiße Wochen bist du von Bergen sicher nicht gewöhnt. Wenn dich die Schwüle zu sehr bedrückt, komm doch heute Abend mit mir nach Harvestehude ins Gartenhaus. Anne wird sich freuen.»
Claes’ Angebot sollte nicht mehr als eine freundliche Geste sein, denn in den letzten Wochen hatte sich Christian fast jeden Abend mit seinen Freunden auf den Wällen, auf dem Altan des Baumhauses oder zum Rudern auf der Alster getroffen, wie es unter den jungen Leuten in der Stadt an warmen Sommerabenden üblich war. Aber als er zwei Stunden später das Kontor im Stammhaus am Neuen Wandrahm verließ, schloss sein Sohn sich ihm an.
Sie lenkten ihre Pferde über die Jungfernbrücke zum Katharinenkirchhof, überquerten die Grimm-Insel und erreichten die noch engeren uralten Gassen nahe Rathaus und Börse hinter der Trostbrücke. Von St. Petri hatte es schon sechs geschlagen, die Straßen leerten sich.
Selbst am Jungfernstieg wehte heute nicht der sonst übliche frische Wind von dem großen See, zu dem die schmale Alster schon vor vielen Generationen gestaut worden war, dennoch atmete es sich freier, wenn man die engen Straßen mit ihren hoch aufragenden Häuserschluchten hinter sich ließ. Claes erinnerte sich, dass in seiner Kindheit noch überall in der Stadt Gärten und kleine Felder das verschachtelte Häusermeer unterbrochen hatten. Die waren nun fast alle verschwunden, kaum ein Fleck in der Stadt, der inzwischen nicht bebaut war, meistens drei- oder vierstöckig, aber auch höher, denn Baugrund war in der von den Wällen eingeschnürten Stadt rar und teuer. Nur in der Neustadt gab es noch ein paar kleine Gärten und Gemüsefelder. Wer es sich leisten konnte, mietete oder kaufte einen Garten in den Billeniederungen vor dem Steintor und in den Vierlanden oder neuerdings, so wie die Herrmanns, auch am näheren Westufer der Außenalster.
Die beiden Herrmanns lenkten ihre Pferde langsam durch die flanierenden Menschen unter den Linden der breiten Promenade. Sie grüßten nach links und rechts, bis ihnen Baumeister Sonnin entgegenkam, ein paar gerollte Bauzeichnungen unter dem Arm und wie immer in staubiger Jacke, und Claes seine Stute zügelte. Sonnin war ein Querkopf, ein genialer Tüftler mechanischer Apparate, ein eigensinniger Baumeister und vor allem ein alter Freund.
«Nehmt Ihr wieder Arbeit mit nach Hause, Sonnin?», fragte Claes.
Der Baumeister schüttelte den Kopf mit der staubigen, etwas struppigen Perücke: «Nein, ich gehe noch nicht in meine Klause in der Neustadt. Da ist es mir heute Abend zu stickig. Aus den Höfen hat es schon vor dem Frühstück so gestunken, als faule da eine ganze Ziegenherde vor sich hin. Nein, ich mache es wie die meisten meiner lieben
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