Der Sommer des Kometen
Osten führten ihn seine Geschäfte bis nach Warschau, St. Petersburg und Archangelsk. Dennoch hatte er fast sein ganzes Leben in Hamburg verbracht, und damit war er sehr zufrieden. Für ihn gab es keine schönere Stadt, doch immer, wenn er sie durch eines der vier großen Tore in den mächtigen Festungswällen verließ, spürte er dieses beunruhigende Gefühl von Übermut, sobald er die Tore passierte. Ein ganz und gar unpatriotisches Gefühl, von dem er niemals jemandem erzählte. Seit er im letzten Herbst das Haus und den Garten in Harvestehude gekauft hatte, war dieses Gefühl stärker denn je.
Er fand das unsinnig, schließlich ging es nicht in die Freiheit verheißende Ferne, sondern nur eine gute Viertelstunde die Außenalster hinauf, in die Arme seiner Frau, von der er niemals wieder, um keinen Preis, frei sein wollte. Im vergangenen Jahr hatte er vor lauter Stolz und Sturheit fast ihre Liebe und sogar ihr Leben verspielt. Er wusste nicht, ob er das Glück verdiente, das er in ihrer Nähe fühlte, aber er hatte schnell aufgehört, darüber nachzudenken. Er genoss es einfach.
Seit diese mörderische Schwüle über der Stadt lag, lebte er mit Anne ständig in Harvestehude. Das Backsteinhaus mit dem kleinen Glockenturm war nicht so weitläufig wie das behäbige, gleichwohl vornehme und ehrwürdige Bürgerhaus, das sein Vater vor vierzig Jahren auf der Wandrahminsel nahe dem Hafen gebaut hatte. Aber es war licht und bequem, und inmitten des großen Gartens empfand er den Aufenthalt dort nach der Enge der Stadt als Labsal. Anne ging es nicht anders. Immerhin hatte sie die ersten fünfunddreißig Jahre ihres Lebens auf der wahrhaft lieblichen Insel Jersey verbracht. Und weil er in diesen Tagen nicht, wie sonst, ab und zu von seinem Schreibtisch aufstehen konnte, um seine Frau in den Wohnräumen über den Kontoren wenigstens für einige Minuten zu besuchen, hatte er es am Abend stets besonders eilig, die Stadt zu verlassen. So auch heute, doch als er sah, dass der Wirt vorm Gasthaus
Alte Rabe
hinter den Klosterbleichen ein paar Tische in den Schatten einer Eiche gestellt hatte, beschloss er, sich diesmal zu gedulden.
«Komm, Junge» – unversehens fiel er wieder in die Anrede aus Christians Kinderzeit. «Lass uns ein Glas Erdbeerbowle trinken. Das Essen wird noch nicht fertig sein», fügte er nach einem Moment hinzu, «und Anne hat es nicht gerne, wenn man bei den Vorbereitungen stört.»
Sie ließen die Pferde am Alsterufer grasen, warfen ihre Röcke und Hüte ins Gras und setzten sich in den lichten Schatten des alten Baumes. Das Gasthaus war eine hübsche Kate aus sauberem Fachwerk unter einem tiefgezogenen Dach. Ein noch kleineres Nebenhaus stand auf schwarzen Pfählen halb im Wasser. Es war von allerlei angebauten Schuppen verschiedenster Größe umgeben und sah aus wie eine geduldige Mutter, der all ihre dicken Kinder am Rockzipfel hingen. Darin wohnte der Fährmann, der ganz allein das Recht hatte, Reisende zum anderen Ufer nach St. Georg überzusetzen. Claes blinzelte und entdeckte das Ruderboot mit dem kleinen runden Dach auf vier Pfosten in der Mitte des Sees. Nur ein Fahrgast saß im Heck des Bootes. Offenbar hatte er besonders gut bezahlt. Der Fährmann ruderte, als ginge es um sein Leben.
Nachdem Claes ein wenig über das Wetter, den schlechten Besuch in Ackermanns Theater und den einen oder anderen Klatsch von der Börse geplaudert und endlich noch das zweite Glas Bowle bestellt hatte, kam er zur Sache. Es fiel ihm schwer, denn es war in seiner Familie nicht üblich, über so unvernünftige Dinge wie Stimmungen oder Gefühle zu sprechen, aber er fand, er habe Christians Melancholie nun lange genug beobachtet, und wenn er auch nicht glaubte, dass Väter die richtigen Vertrauten für die Geheimnisse einundzwanzigjähriger Söhne waren, überwog die Sorge die Diskretion.
«Ich will dich nicht bedrängen, Christian, du weißt, dass das nicht meine Art ist. Aber den ganzen Winter und Frühling warst du so fröhlich, so voller Energie …»
Ein ganz schlechter Anfang, der nichts als einen Vorwurf erwarten ließ. Er löffelte umständlich eine Erdbeere aus seinem Glas und suchte nach besseren Worten. Da hielt er gefürchtete Reden vor dem Senat und in der Commerzdeputation, führte Geschäftsverhandlungen wie ein Fuchs und vermochte doch nicht, seinem Sohn eine einfache Frage zu stellen.
«Willst du wissen, warum ich so schlecht gelaunt bin, Vater?» Sie sahen einander an, und Claes dankte
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