Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
damals nach einem Bombenangriff an die Hauswand gedrückt gelegen bin. Ich hatte den Bunker nicht mehr rechtzeitig erreicht und mich auf den Boden geworfen. Passanten, die in der Straße versuchten, die Verschütteten zu bergen, hatten geglaubt, ich sei tot. Ein Jahr später stürmten am Ende des Krieges russische Soldaten die breite Treppe des Krankenhauses hinauf, in dem ich als Hilfsschwester gearbeitet hatte. Sie schossen die notdürftig verbarrikadierte Eingangstüre mit Maschinengewehrsalven auf, dass die Holzsplitter hinauf bis in den zweiten Stock des Stiegenhauses stoben. Mit vier anderen Schwestern und einer Ärztin hatten wir uns vor dem Eingang des damaligen Lazaretts aufgestellt. Nichts hatte ich Max davon erzählt, wie die Männer mich festhielten und schlugen, wie einer nach dem anderen sein Geschäft brutal an mir verrichtete bis mein Geschlecht blutete und meine Beine wie gelähmt waren. Ich sehe die Bilder aus der Entfernung von fast siebzig Jahren an mir vorüberziehen und möchte nicht wieder in die Haut von damals schlüpfen und fühlen müssen, wie es wirklich war. Davor habe ich Angst, daran will ich nicht erinnert werden, aber ich weiß, all das liegt in meinem Körper begraben.
Ich habe niemandem außer Paul von meinen Reiseplänen erzählt, weil ich wusste, die Pflegerinnen und Dr. Haubach würden versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Aber ich will noch einmal das Haus in der Riedstraße sehen, in dem ich geboren worden bin, damals Neunzehnhundertzwanzig, zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Vater war mit einem Rückendurchschuss von der Front in Verdun zurückgekommen und hatte in seinem gelernten Beruf als Zimmermann keine Arbeit gefunden. Ein paar Monate erledigte er für einen Lebensmittelladen mit dem Fahrrad Botendienste und lernte Mutter kennen, die dort als Verkäuferin und »Mädchen für Alles« angestellt war. Meine Kindheit war unbeschwert, ich war umsorgt und musste keinen Mangel leiden. Vater züchtete Kaninchen und Gänse in einem Gehege im Garten, und Mutter zog das Gemüse in langen Beeten, die an den Hinterhof des Hauses der Großmutter anschlossen, in dem wir, ein Bruder und eine Schwester von Vater mit ihren Familien wohnten. Ständig herrschte in Haus und Hof Betrieb, es wurde gemeinsam gearbeitet, und an den Dorffesten tanzten die Erwachsenen bis in den Morgen, während die Kinder auf den Holzbänken am Rande der ausgelassenen Gesellschaft zum Schlafen gelegt wurden unter der wechselnden Obhut einer der Frauen. Auf einer Feier zum Gedenken an das Kriegsende habe ich vor der versammelten Gemeinde ein Gedicht rezitiert, in einem weißen, mit Spitzen besetzten Kleid und habe mit pathetischer Geste ins Publikum gerufen »Nie wieder Krieg, ich sage Euch, nie wieder Krieg«. Damals muss ich um die sieben Jahre alt gewesen sein und letzte Nacht habe ich von dieser Versammlung geträumt. Alle waren sie da, im geschmückten Turnsaal der Schule, Mutter in einem hellblauen Kleid, blass im Gesicht, die Tuberkulose trägt sie bereits in sich. Vater mit einer Schiebermütze auf dem Kopf. Vielleicht ist sein Magen bereits von dem Geschwür befallen, die Ursache seines Todes, wenn er blutüberströmt eines Morgens im Bett liegen wird. Da ist auch Rudolf, mein Cousin, der versucht, mir die Schleifen im Haar zu öffnen, weil er nicht still sitzen kann und ständig Unfug ausheckt. Später mit den Schlägertrupps der Nazis wird er einen rasanten Aufstieg nehmen, der dann im Winter in Russland abrupt sein Ende in der eiskalten Schneewüste findet. Äne hatte mir von Rudolfs Tod geschrieben, sie war meine Lieblingscousine, die mich 1946 in Wien besuchte. Sie hatte sich während des Krieges in einen Österreicher verliebt und wollte nicht aufgeben, ihn zu suchen, bis sie herausfand, dass er verschollen gemeldet war. Unglückliche Äne, ich habe sie damals auf den Bahnsteig begleitet und sie hat mir aus dem Zugfenster zugerufen: »Was soll ich denn mit dem Kind machen, das will ja keiner außer mir?« Ich sehe sie vor mir, wie sie mit rot unterlaufenen Augen und ihren schulterlangen, blonden Haaren mit einem kleinen dunkelblauen Hütchen aus Bast, das sie schräg in die Stirne gedrückt hat, am geöffneten Fenster des abfahrenden Zuges steht. Später habe ich gehört, sie sei mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten nach Kalifornien ausgewandert und habe ihren Sohn bei Pflegeeltern in Frankfurt zurückgelassen.
Es gibt Tage, da habe ich Sehnsucht nach meinen Eltern
Weitere Kostenlose Bücher