Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
war. Am Abend davor habe ich an Pauls Türe geklopft, und als ich keine Antwort bekam, wollte ich nicht länger warten und drückte sachte die Türschnalle nach unten, um durch den Spalt leise seinen Namen zu rufen und, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Zimmer zu rollen, wo ich ihn dann unter dem matten Schein der Nachttischlampe in hohen Kissen liegen sah. Er war still, und als ich meine Hand auf die seine legte, hob er müde die Augenlider und lächelte mich an, mit einem Ausdruck des Erkennens im Gesicht, das dann wieder in einen wächsernen Zustand verfiel, totenmaskengleich, die Wangen eingefallen, die Backenknochen spitzer als sonst. Ich kenne seine wiederkehrenden Schwächezustände aus den letzten Monaten und eigentlich hätte ich ihm diese Aufregung um meine Reisevorbereitungen nicht zumuten dürfen, aber er war mit solcher Hilfsbereitschaft dabei gewesen, die ich nur schwer ablehnen konnte. Ich genieße seine Fürsorge und vermute, er hat Alexander am Totenbett versprochen, auf mich aufzupassen. Manchmal traue ich Paul nicht, weil ich befürchte, dass er mit Haubach einen Pakt geschlossen hat, damit er ihm rechtzeitig eine Spritze gibt, bevor das Leben durch die Schmerzen unerträglich werden sollte. Doch vielleicht tue ich ihm unrecht. Paul hat mir gestern mit kaum hörbarer Stimme von den letzten Vorbereitungen erzählt, die er für meine Reise gemacht hat, der Hilfsdienst am Bahnhof für meinen Rollstuhl sei bestellt. Er habe alles ausgedruckt, die Papiere liegen auf dem Schreibtisch in der Ecke parat. Aber ich müsse auf mich Acht geben, unbedingt, versprochen. Es sei meine lang ersehnte Reise nach Hause, und er wolle nach meiner Rückkunft einen ausführlichen Bericht hören.
Kapfenberg Februar 1934
Max saß erwartungsvoll auf der alten Friedhofsmauer und blickte auf die schneebedeckten Reihen der Gräber, die sich vor den Grabsteinen im kalten Mittagslicht ausbreiteten. Auf den Wegen hüpften ein paar Krähen entlang. Die Luft stand eisig still, der Rauch der Kamine lagerte in flach dahinkriechenden weißgrauen Schleiern über den rostbraunen Ziegeldächern der Stadt, die Max von hier aus sehen konnte. Hinter dem Werkshotel zogen sich die langen Fabrikhallen bis ins Tal hinein und ein Stück weiter, an der Straße entlang, standen bei der Schleife des Thörlbaches drei Arbeiterhäuser in einer Reihe dicht gedrängt an den Zaun, der das Gelände des Werks umgab. Max blickte zum mittleren grauen Arbeiterwohnhaus mit den dunkelgrünen offen stehenden Fensterläden, in das er mit den Eltern und mit Edgar, seinem vier Jahre älteren Bruder, im vorigen Sommer eingezogen war. Weiter unten in der Stadt, Richtung Hauptplatz und Rathaus, hörte er mit einem Mal das anschwellende Geschrei einer Menschenmenge, während er ungeduldig auf Otto wartete, mit dem er sich hier verabredet hatte. Die Mutter hatte ihm verboten, aus dem Haus zu gehen, aber nachdem sie zur Arbeit beim Koglerbauern gegangen war, hatte Max es nicht mehr länger ausgehalten und war zum Fenster aus dem Parterre gesprungen, wie eine Katze auf der Flucht. Dann hatte er nach Otto gepfiffen und ihm, als er aus dem zweiten Stock des Dreierhauses sah, zugerufen, er würde in einer halben Stunde bei der Friedhofsmauer auf ihn warten. Max wollte zuerst nachsehen, ob dort bei der Martinskapelle etwas von dem im Gange war, wovon die Männer gestern in der Küche gesprochen hatten, Streik und Belagerung des Gendarmeriepostens, der unterhalb des Friedhofs lag. Er konnte sich unter all dem nicht viel vorstellen. Nachdem er das ausgekundschaftet hatte, wollte er mit Otto zur Stadtpfarrkirche gehen, die in der Nähe der Werkeinfahrt gelegen war, dort wo der Thörlbach mit der Mürz zusammenfloss. Er wollte Forellen fangen und hatte die Angel dabei, die er vom Großvater geschenkt bekommen hatte. Den ganzen Sommer über war er mit Großvater an den Sonntagmorgen am Wasserlauf unterwegs gewesen, hatte barfuß auf den Stämmen der Trauerweiden balanciert, die in der Nähe des Kraftwerks über das Bachbett wuchsen. Dort hatte ihm der Großvater erklärt, wie man Würmer oder Fliegenlarven suchte, sie in einer Blechbüchse sammelte, bevor sie ihr Leben in der Strömung oder im Maul eines Fisches beendeten. Großvater hatte oft von früher erzählt, als er an den Ufern der Drau das Fischen von seinem Vater erlernt hatte. Dort wo Großvater herkam, war er seit dem Krieg nicht mehr gewesen. Die Gegend gehöre zu Jugoslawien und die Menschen dort hatten eine andere
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