Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
mehr sprechen, nicht gehen, und wenn ich versuchte, ihn zu füttern, sah er mich mit einem großen braunen Auge an, das andere verklebt mit einer Folie, die das Austrocknen verhindern sollte. Er gab mir zu verstehen, dass er meine Bemühungen zu schätzen wusste, sich aber lieber verabschieden würde, und das tat er dann auch. Lise, die gemeinsam mit ihrem Mann in Südafrika ein Weingut bewirtschaftet hatte, war im Alter allein nach Europa zurückgekehrt. Sie hatte ihre Abschiede mit opulenten Abendessen inszeniert, wenn sie nach ein paar Monaten des Sommeraufenthaltes in Basel wieder in den Süden abreiste. Ich hatte jedes Mal den Eindruck, als würde sie sich für immer verabschieden. Ich wusste um ihre Angst, wenn sie ein Flugzeug bestieg. Es graute ihr daran zu denken, mit unbekannten Menschen in einer Konservenbüchse, wie sie es nannte, über dem Meer abzustürzen oder an einem Bergmassiv zu zerschellen. Seit Jahren betrat sie keine Maschine, ohne sich vorher zu betrinken und ein Döschen mit Beruhigungspillen am Leib zu tragen für den Fall, dass sie im Getümmel ihre Handtasche nicht mehr finden würde. Sie schilderte mir Schreckensszenarien, die ihr durch den Kopf gingen, von wild gewordenen Mitpassagieren, die nur versuchten, das eigene Leben zu retten, und schreienden Kindern, die zertrampelt wurden. Die Angst vor Tod und Krankheit gehörte seit Jahren zu ihr, und sie konnte sich kaum mit ihren Falten im Gesicht anfreunden, doch das war für mich kein nachvollziehbarer Grund, dem Leben ein Ende zu setzen. Im August vor vier Jahren fand man sie leblos am Wehr auf der deutschen Seite des Rheins, und ich konnte ihr den grußlosen Abschied, ohne Hilferuf, ohne ein Wort des Adieu, nicht verzeihen. Ich habe ein Bild von ihr über dem Plattenspieler aufgehängt, und immer wenn ich Madame Butterfly mit der Callas auflege, sehe ich sie neben mir sitzen, in sich versunken, mit geschlossenen Augen. Ein sehnsuchtsvoll gespanntes Ziehen hat ihre Nackenmuskulatur ergriffen, die den Kopf in einer leichten Schieflage hält, in einer Mischung aus Andacht und Hingabe. Lise ging als Erste und nach Alexander kam Friedrich, sein bester Freund. Er kämpfte lange gegen den Lungenkrebs und vor drei Jahren im Sommer nahm er ihm dann doch die letzte Luft. Er vererbte uns seine Bücher mit zahlreichen Bänden über Geschichte und Kunst in Europa nach1900 , die im Aufenthaltsraum des »Grünen Hauses« ohnehin einen großen Teil der Bibliothek ausmachten. Seine indische Frau Dadrah zog zu ihrem Sohn nach Signapore, einem Computerfachmann, der jedes Jahr mit seiner Familie ein paar Wochen in der Gästewohnung verbrachte. An den warmen Abenden saßen wir im Garten an einem langen Tisch, Lise, Dadrah und ihre indische Schwiegertochter kochten und hängten mit den zwei kleinen Buben, die nur Englisch sprachen, Lampions zwischen den Bäumen auf. Eine märchenhafte Erinnerung wie aus Tausendundeiner Nacht. Dadrahs Sohn habe ich zu verdanken, dass ich mit der neuesten Computertechnologie ausgerüstet bin und über das Internet telefonieren kann. Paul ist noch da, ohne ihn hätte ich das »Grüne Haus« nicht halten können, nachdem sämtliche Erben ausbezahlt worden waren. Er beklagte sich nie über den Verlust seiner Frau Gina, die vor zwei Jahren elend an den Metastasen eines Brustkrebs gestorben ist und unter Morphium, von den Ärzten halb in Schlaf versetzt, ihre letzten Wochen verbrachte. Es war fast nicht mehr zu ertragen gewesen, ihr zuzusehen, und ich erinnere mich an unsere Diskussionen über Sterbehilfe, bei denen wir heftig aneinandergerieten. Mit Paul beschloss ich vor einem Jahr das »Grüne Haus« zu verkaufen. Das übrig gebliebene Geld wird noch ein paar Jahre unser Dasein hier im Rheinhof-Alterszentrum ermöglichen, denn ohne Rollstuhl werde ich nach den misslungenen Knieoperationen vom letzten Sommer nicht mehr auskommen, und das Projekt des Treppenliftes in meine Wohnung in den ersten Stock war viel zu teuer und aufwendig. Die notwendigen Arbeiten hatten wir schon lange mit den Freunden besprochen gehabt, aber als einer nach dem anderen aus der Gruppe starb, war es zu spät, einen Umbau auszuführen. Wir alle haben die Schnelligkeit und Gründlichkeit des Todes unterschätzt. Ich wollte mich nicht als Neunzigjährige im »Grünen Haus« verbarrikadieren, und anfänglich war mir daran gelegen, jüngere Mitbewohner zum Einzug ins »Grüne Haus« zu gewinnen, aber die Idee ist schließlich nach vielen Gesprächen mit
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