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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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und nach der Zeit im Ried, als wir mit den Gänsen zum Schwimmen gingen, und als im Hof sonntags mit der ganzen Familie gegessen wurde und Vater noch aus vollem Halse lachte, Mutter dabei um die Hüften schlang und an sich drückte, dass sie leise aufschrie und sich zierte, ihm vor allen Verwandten einen Kuss zu geben. In letzter Zeit muss ich oft an diese Jahre denken, die so lange zurückliegen und die ich inzwischen vergessen geglaubt habe. Die Vergangenheit fängt an, mehr Platz zu beanspruchen, unmerklich, und die Dinge des Alltags treten mehr und mehr in den Hintergrund. Stundenlang kann ich mit mir selbst beschäftigt sein, in Gedanken und Erinnerungen vertieft, während ich versuche, in meinem bescheidenen Haushalt, der mir im Heim geblieben ist, Ordnung zu halten. Vor ein paar Tagen habe ich unnötiges Geschirr, Bettwäsche und Kleidung aussortiert, ich werde nicht mehr so vieles brauchen für die Zeit, die ich noch vor mir habe. Aber die Arbeit geht langsam voran, denn an jedem Gegenstand haftet eine Geschichte. Ich habe zusehends Mühe, mir Kleinigkeiten zu merken. Ohne die gelben Zettel in der Handtasche, auf denen ich mir notiert habe, was ich erledigen oder einkaufen will, gehe ich schon längst nicht mehr aus dem Haus. Selbst wenn ich glaubte, alles im Gedächtnis behalten zu haben, was ich besorgen wollte, kam ich oft zurück von einer Einkaufsfahrt, ohne das mitgebracht zu haben, was ich eigentlich wollte. Früher habe ich über die Alten mit ihrer Notizenwut gelacht. Heute sehe ich manchmal im Internet nach, wenn mir etwas nicht einfallen will, und bin fasziniert, wie schnell ich das Gesuchte finde. Nicht im Traum hätte ich mir das früher gedacht, als wir auf der Schiefertafel unter dem strengen Blick des Lehrers mit der quietschenden Kreide unsere Sätze kratzten. Die anderen hier im Rheinhof sind etwas träge mit dem Gebrauch des Computers. Letzte Woche haben ein paar nette Gymnasiasten uns an zwei Nachmittagen Hinweise gegeben, wie wir uns leichter damit tun. Ich habe sie mir aufgeschrieben. Dem Heimarzt Dr. Haubach kann ich nichts vormachen. Er meinte letzte Woche, es sei wohl an der Zeit, mit den Medikamenten gegen das nachlassende Gedächtnis zu beginnen. Er hat mich in einen Kreis Ziffern schreiben lassen, ich solle die Zeit vier Uhr nachmittags eintragen, und ich war verblüfft gewesen, über die Leere in meinem Kopf, die ich vor dem weißen Blatt verspürt habe. Mit aller Anstrengung war es mir gelungen, die richtige Zeigerstellung aufs Blatt zu bringen und die Ziffern ordentlich und im richtigen Abstand im Rund zu verteilen. Wütend war ich zunächst mit mir und dann mit Dr. Haubach gewesen, der mir freundlich zu verstehen gab, es würde mit meinem Kopf nicht mehr so gut stehen. Da gibt es plötzlich leere Räume, in denen ich mich aufhalte, wenn ich nach einem Ausdruck suche. Sie muss ich mit List und Ausdauer durchqueren, bis ich wieder ein benutzbares kleines Zimmer in meinem Hirn mit unzähligen altholzbraunen Schubladen in den Wänden finde. So stelle ich mir mein Gedächtnis vor. An den Schubladen sind Jahreszahlen angebracht, die beim genauen Hinsehen vor meinen Augen verschwimmen. An manchen Tagen habe ich guten und an anderen schlechten Zugang zu den Zimmern in meinem Kopf. Ein bisschen habe ich den Verdacht, es hängt auch mit dem Wetter und dem Blutdruck zusammen. Dr. Haubach lächelt immer, wenn er durch das Foyer zu seinem Ordinationsraum geht, mittwochs um halb neun. Ich bewundere dann sein zweireihiges Sakko, seinen weißen Schnurrbart, der ihn einerseits keck erscheinen lässt, andererseits das Signal aussendet, als komme der Herr Doktor aus einer Zeit, in der Männer noch stolz in Uniform ausgingen. Dr. Haubach stammt, wie er mir einmal erzählt hat, aus einer wohlhabenden Familie, die in den Dreißigerjahren aus Österreich in die Schweiz geflohen war. Das mag auch seine manchmal etwas altmodischen Umgangsformen erklären und den Schalk, mit dem er ein paar Sätze im betont breiten Wienerisch spricht. Ich kann ihn von meinem Platz aus, einem mit goldgelbem Samt bezogenen Polstersessel, in dem ich jeden Morgen nach dem Frühstück die Zeitung lese, beobachten. Ich komme mir dann vor wie in einem Hotel, in einer unbekannten Stadt, zu deren Erkundung ich in den nächsten Stunden gemeinsam mit Alexander aufbrechen werde, ganz so, wie wir es in den letzten Jahren in unzähligen Städten Europas getan haben. Dr. Haubach war gestern bei Paul, weil er nicht zum Essen erschienen

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