Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Amtssprache verordnet bekommen. Das Dorf trage aber noch immer denselben Namen, den Maxens Familie trug. »Das wird so bleiben, auch wenn von uns niemand mehr am Leben ist.« Dieser Satz aus Großvaters Mund hatte Max stolz auf seinen Nachnamen werden lassen, dem er vorher keine große Bedeutung beigemessen hatte. Großvater war vor vielen Jahren als junger Mann hierhergekommen, denn der Bauernhof war an den ältesten Bruder übergeben worden. Max begleitete den Großvater gerne auf dessen Wanderungen in der Umgebung und hörte seinen Erzählungen aus seinem früheren Leben zu. Im Herbst waren sie zum Pilze sammeln im Wald, oberhalb der Fischerwand am Ende des Tals herumgeklettert und Großvater hatte versprochen, im Frühjahr, wenn die letzten Schneeflecken geschmolzen waren, zwischen den Felsen die seltenen Schachbrettblumen mit ihm zu suchen, die so weiche Stengel und Blüten hätten wie das Fell einer jungen Katze.
Als Otto nicht wie verabredet zur Mauer kam und Max durch das Geschrei der Menge in der Stadt mehr und mehr verunsichert war, schlug er nach einigem Zögern den Weg nach Hause ein. Er hätte gern mit seiner Angel angegeben und gezeigt, was er alles gelernt hatte, doch vielleicht war das nicht der geeignete Tag dafür. Vor einer Woche hatte Großvater die in ein altes Leinentuch gewickelte Angel aus der Holzhütte geholt und Max aufgetragen, sie sorgfältig zu behandeln. Er hatte ihm erklärt, dass er nur dort fischen solle, wo er keine anderen Menschen treffen würde, wie man am besten den Haken aus einem Fischmaul lösen konnte, und hatte ihm bei dieser Gelegenheit den Flechtkorb mit dem Lederdeckel, der nach Fisch roch, übergeben. Max war gern mit dem Großvater allein unterwegs gewesen, sein Bruder Edgar war zwar manchmal mitgegangen, hatte sich beim Angeln auch nicht dumm angestellt, aber das Warten darauf, ob endlich ein Fisch anbeißen würde, langweilte ihn. Er war lieber drüben im Keller des Achterhauses bei Walter, wo die beiden Fahrräder reparierten und allerlei Zeug bastelten, von dem Max nichts verstand. Sie wollten ihn nicht dabeihaben, denn er war ihnen lästig, weil er in ihren Augen zwei linke Hände hatte und unablässig dumme Fragen stellte, anstatt anzupacken.
Großvater hatte vom Krieg erzählt, dem Großen Krieg, so würden ihn die Engländer bezeichnen, und erklärt, dass es damals einen alten Kaiser gegeben habe, mit einem mächtigen Bart. Von ihm besaß er ein Ölgemälde, das er in seinem Schrank hinter den Jacken und Hosen aufbewahrte. Das stammte aus der Zeit, als sein Dorf zu Österreich gehört habe, und war das Brustporträt eines alten Mannes im Trachtenanzug, der einen Hut mit Gamsbart auf dem weißen Haar trug. Der aufgezwirbelte Schnurrbart war stattlich, wie es Max nur beim alten Murwirten in Bruck gesehen hatte. Das Bild des Kaisers sei früher überall gehangen, in den Amtsstuben und Ministerien, dort wo jetzt das Portrait des Faschisten Dollfuß hängt, der kein Bundeskanzler, sondern ein Despot sei und in Wirklichkeit gar nicht so groß, wie man auf der Photographie vermuten würde. Max bat den Großvater manchmal darum, ihm das Gemälde des Kaisers zu zeigen, was er zwar tat, aber nicht ohne in Wut zu geraten, dass dieser Alte unzählige Menschen auf dem Gewissen habe. Großvater erzählte, während er das Bild auf den kleinen Beistelltisch neben dem Wohnzimmerfenster stellte, wehmütig von dem Dorf in der Nähe des Radelpasses, vom Hof seiner Eltern und von den Geschwistern, von denen zwei Brüder im Krieg gefallen waren. Mit ihnen hatte er als Kind in den Sommerferien, angeleitet vom strengen Vater, auf den Feldern in der Hitze gearbeitet. Nach einer Weile begann er von seinen Erlebnissen in den Dolomiten während des Krieges zu berichten, von den eisernen Stiegen, die sie dort in die Felswand getrieben hatten, und von den Maultieren, die man mit Flaschenzügen nach oben gehievt hatte, eingepackt in ein Netz, aus dem ihre Beine baumelten, hilflos der Höhe preisgegeben. Einmal sei Großvaters Lieblingsmuli mitsamt einem schweren Geschütz die Felswand hinuntergedonnert. Unten im Tal dann, ein Haufen Eisenteile, Knochen, Blut und ein abgetrenntes pelziges graues Ohr, das dem Großvater als Talisman geholfen habe, über den Krieg zu kommen. Im Winter 1917 hätte er mit seinen Kameraden, weil der Nachschub nicht funktionierte, in einem Dorf den Fischteich mit einer Handgranate leergefischt. Fünfzig Forellen hätten sie gebraten, auf dem offenen Feuer, ein
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