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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Himmel darüber freigaben, etwas gegessen, inmitten einer Gesellschaft, die sich wie in längst vergangenen Zeiten den Klängen von Wienerwalzer und Operettenmelodien hingab, die ein Trio mit ungarisch klingendem Namen im Hintergrund spielte. Am späten Nachmittag kündigte sich ein plötzlicher Wetterumsturz an, und es begann zu schneien, worauf Alexander und ich beschlossen, ein Zimmer im Hotel zu nehmen, um erst am nächsten Tag die Reise nach Basel fortzusetzen. Nach dem Abendessen lernten wir in der Bar einen betagten griechischen Geschäftsmann kennen, der, wie er sagte, jedes Jahr seine Ferien hier verbrachte, und die beiden Männer vertieften sich in ein angeregtes Gespräch über die Verhältnisse im Griechenland der Nachkriegszeit. Wenn ich heute daran denke, bin ich verblüfft über die Parallelen in Maxens und Alexanders Leben, doch vielleicht haben erst sie es mir ermöglicht, mich nach Maxens Tod wieder jemandem anzuvertrauen.
    Draußen ist es dunkel. Von meinem Platz in den Kissen sehe ich auf das gegenüberliegende Dach und die beleuchteten Fenster im oberen Stock des Hauses. Ich lasse den Abend und den Tag Revue passieren, zufrieden und von einer inneren Leichtigkeit beflügelt. Ich habe keine Wünsche, keine Sehnsüchte, ich genieße diese besonderen Stunden zusammen mit meiner Tochter. In Gedanken versunken habe ich beobachtet, wie in einem beleuchteten Fenster im gegenüberliegenden Haus eine junge Frau ihr Kind auf dem Arm trägt. Ich kann in ihr Wohnzimmer, mit einem Schrank, einem Esstisch, dahinter einer offenen Tür zu einem hell erleuchteten Raum, der Küche, hineinsehen, in der die Frau hin und her geht. Sie hat das Kind mit den blonden Locken offenbar auf den Boden gesetzt, um ungestört mit den Töpfen hantieren zu können. Warum beide so spät in der Nacht noch wach sind, kann ich nur ahnen, vielleicht hat das Kind geschrieen, vielleicht ist es krank, und die Mutter kocht Tee oder bereitet eine Flasche mit Milch vor, dann werden die beiden wieder zu Bett gehen.
    Lena war als Kind oft krank. Sie bekam schnell hohes Fieber und glasige Augen, wobei ich nicht nur ein Mal Angst um sie hatte, wenn sie Krämpfe bekam, und ich Max nach einem Doktor schickte, der kam und ihr eine Injektion gab. Sie schlief dann völlig erschöpft und totenbleich bis zum nächsten Morgen. Ich habe nie darüber mit Max geredet, aber manchmal hatte ich das Gefühl, sie wolle diese Welt wieder verlassen, obwohl sie gerade erst begonnen hatte, diese zu entdecken. Wir hatten uns auf sie gefreut. In den ersten Jahren nach Maxens Heimkehr aus dem Krieg versuchten wir, uns einzurichten, ich als Hilfsschwester im Krankenhaus, Max zu Anfang mit Gelegenheitsarbeiten und dann mit der Anstellung in der Lokomotivfabrik. Mit Lenas Ankunft war plötzlich etwas zwischen uns getreten, das uns auch voneinander entfernen sollte. Selten kam es vor, dass wir noch die körperliche Nähe des anderen suchten, und wenn, war es immer schwierig gewesen, weil mein Unterleib, den ich nicht als zu mir gehörig empfand, einfach erstarrte, ohne sich von mir in irgendeiner Form beeinflussen zu lassen. Nichts hatte ich Max vom Ende des Kriegs erzählt, wozu erzählen, was mich seither innerlich verstummen hat lassen, was mich beim Gedanken daran die Fingernägel in meine Hand hat krallen lassen, um die Erinnerung zu verscheuchen, auszutreiben, die Schüsse, das Krachen, die Schatten, das Getümmel, meine Schreie.
    Die Frau hinter dem Fenster trägt ein weißes Nachthemd, das ihr bis zu den Knöcheln reicht. Sie hält den Kopf des Kindes eng an ihren Hals, legt ihre Wange an den Scheitel des Kleinen, zart, streift eine hüllende Decke mit einer Hand am Rücken des Kindes zurecht. Ihr Blick fällt versonnen hinunter auf die Straße, dann herüber zu mir und durch mich hindurch. Sie bleibt eine Weile so stehen, ganz ruhig, vollkommen versunken und eins mit dem Kind auf ihrem Arm.

Die Autorin dankt der prohelvetia

    dem Präsidialamt des Kantons Basel Stadt, Abteilung Kultur

    und der UBS Kulturstiftung für die Förderung ihrer Arbeit an diesem Roman.

    © 2013 Luchterhand Literaturverlag, München,
    in der Verlagsgruppe Random House GmbH
    Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
    ISBN 978-3-641-10924-0

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