Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
hier in Deckung gingen und mit ihren Gewehren im Anschlag aus den Fenstern spähten. Sie war bemüht, eine durchgehende Linie in gleichbleibender Höhe zu ziehen bis kurz vor Klaras Wohnungseingang im zweiten Stock, in einer ununterbrochenen Bewegung, ohne den Finger abzusetzen, denn nur dann würde sie sich etwas wünschen dürfen und nur dann würde niemals mehr gekämpft werden. Doch wenn es ihr nicht gelang und sie unaufmerksam mit der Fingerspitze abrutschte oder ihr auf den Stufen ein Erwachsener begegnete, vor dessen Augen sie ihr Tun verbergen wollte, um den Zauber nicht zu brechen, dann war ihr, als könnte etwas Unvorhergesehenes an jenem Tag geschehen, man konnte nie wissen. Solche Rituale erfand sie an den unmöglichsten Orten, immer wenn sie allein unterwegs war, vor sich hin trödelte, und es wurden mit der Zeit immer komplexere Aufgaben, denen sie sich hingab. Doch wenn sie dabei gestört wurde, fühlte sie eine Spannung und Unruhe in sich aufsteigen, die sie nur damit beenden konnte, wenn sie schnell ein neues streng durchdachtes Spiel erfand und es auch sofort ausführte. Mit ihrem alten Fahrrad hatte sie angefangen einen Kreis nach links und einen nach rechts zu drehen, bevor sie den Innenhof verließ, und am Anfang war das auch niemandem aufgefallen, bis die Mutter sie eines Tages ermahnte, sich zu beeilen, sie habe keine Lust, so lange auf sie zu warten, und dieses Schleifendrehen könne sie sich abgewöhnen, damit würde sie ihr gehörig auf die Nerven gehen.
Die Mutter wollte zuerst das alte rostige Puch-Waffenrad, mit dem Lena bisher unterwegs war, reparieren lassen, aber der Vater hatte darauf bestanden, ein neues anzuschaffen, sie würde mit dem sperrigen Ding dauernd stürzen »den Bock schenken wir dem Karl, der kann sicher etwas damit anfangen« und dann hatte Karl Jagbauer, ein Freund des Vaters, das Fahrrad abgeholt. Er würde es neu lackieren, reparieren und verkaufen, ein bisschen Kleingeld könne man immer gebrauchen. Lena musste immer Bescheid geben, wohin sie mit dem Rad fuhr und mit wem sie unterwegs war, und wenn sie eine neue Freundin kennen lernte, dann sollte sie diese zuerst auf eine Limonade und belegte Brötchen nach Hause einladen und von oben bis unten durchleuchten lassen. Lena war gut in der Schule, sie brauchte nicht viel zu lernen, um den Unterrichtsstoff mitzubekommen, und war deshalb bei den anderen Mädchen beliebt und auch bei Klaras Eltern eine gern gesehene Nachhilfelehrerin, weil deren Bruder Axel mit dem Sitzenbleiben rechnen musste.
Der Regen trommelte stärker ans Fenster und Lena drückte ihre Stirn gegen die Scheibe, an deren Außenseite die Tropfen gemächlich das Glas hinunterliefen. Langsam verfolgte sie die Spuren des Wassers mit ihrem Blick, bis ihr schwindlig wurde. Es war kurz nach zehn Uhr abends, die Mutter saß im Wohnzimmer und wartete auf den Vater, der mit Jagbauer unterwegs war. Sie dachte, dass beide in einem Beisl bei einem Bier hängegeblieben seien, wie es öfter vorkam, wenn sie sich den Erinnerungen an die gemeinsame Mitgliedschaft bei den Kommunisten hingaben, denn auch Jagbauer war aus Protest, wie er sagte, bei keiner Fraktion mehr gemeldet und aus der Partei ausgetreten. Lena lugte durch den Spalt der angelehnten Türe zum Wohnzimmer, dort war die leise Stimme eines Radiosprechers zu hören, auf der Anrichte konnte sie die beleuchtete Senderskala des Gerätes sehen, deren Vorderfront sie mit zwei großen Drehknöpfen, die sie an Augen erinnerten, zu beobachten schien. »Mama, darf ich noch in den Hof hinunter. Ich möchte das Rad besser abdecken. Es wird ganz nass.« Die Mutter sah erstaunt von ihrem Kreuzworträtsel auf, blickte zur Uhr über dem Radio und ihre Stimme klang ärgerlich und angespannt. »Du gehst ins Bett. Wir suchen morgen einen besseren Platz für das Rad. Geh schlafen.« Lena war enttäuscht und zog langsam den Kopf wieder zurück, als mit einem Mal das Telefon im Vorraum klingelte und die Mutter hastig aufsprang. »Ja, Sie sind richtig. Ja. Wo sagen Sie? Wann? Ich komme sofort.«
Die Mutter sah Lena mit weit aufgerissenen Augen an. »Vater liegt im Krankenhaus. Ein Auto hat ihn angefahren.« Während sie sich umdrehte und den Mantel überstreifte, nahm sie Lena an der Hand und sagte, sie könne sie nicht mitnehmen. Bevor das Mädchen etwas fragen konnte, hatte die Mutter die Tür geöffnet, klingelte an der Nachbarwohnung und erklärte Tante Anna, die im blumig gemusterten Schlafrock im Eingang stand, in Eile,
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