Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
mich vor dem Auszug nie gefragt, o b ich mit ihr geh en wollte oder lieber bei Vater geblieben wäre.
Mutter ist in der gemeinsamen Wohnung im Speiser-Hof oft am Fenster gesessen und hat, den Blick starr auf die dunklen Umrisse der Bäume gerichtet, geweint, weil Vater nicht viel essen wollte und früh zu Bett ging, einfach die Tür hinter sich schloss, mit einem knappen »Schlaft gut«. In den Nächten habe ich ihn immer wieder laut poltern gehört, und dachte, die Eltern würden streiten, aber wenn ich dann aufsprang, um an der Schlafzimmertüre zu horchen, stand Vater auf dem Balkon mit einer Zigarette in der Hand und gab mit leiser Stimme zu verstehen, ich solle mich wieder hinlegen, er habe schlecht geträumt, das sei alles. Einmal musste der Arzt kommen, gab Vater eine Spritze und verließ mit ratlosem Gesichtsausdruck die Wohnung. Ich war oft wach, um in die Dunkelheit zu lauschen, ob Vater noch da war, ob Mutter noch da war, denn mich plagte die Phantasie, beide könnten verschwinden und mich allein lassen, nachdem seit Vaters Unfall alles anders geworden war. Ich wünschte mir damals jemanden, mit dem ich hätte reden können, eine Schwester vielleicht, die mich in den Arm genommen und gesagt hätte, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, alles würde wieder wie früher werden. Mutter tat das nie.
Seit dem Einzug in die neue Wohnung fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, ich saß in der Schule in der letzten Bank und starrte aus dem Fenster, ohne dort wirklich etwas wahrzunehmen, konnte auch dem Vortrag der Lehrer kaum folgen und dachte an zu Hause. Die Freunde luden mich immer seltener zu sich ein, keiner wusste so richtig, was mit mir los war, und ich konnte nicht darüber sprechen. Einzig Tante Anna fragte mich oft, ob ich am Abend mit ihr eine Geschichte lesen oder Karten spielen wolle. Das verband sie mit der Bitte, ich solle einer alten Frau doch ein wenig die Zeit vertreiben. Wer da wem die Zeit vertrieb, das wusste ich bald, und ich war dankbar, dass ich bei ihr sein durfte. Tante Anna ist lange tot, und wenn ich heute in der Gegend des Zentralfriedhofs bin, besuche ich sie, bleibe eine Weile auf einer Marmorbank unter einer alten Thuja mit Sicht auf ihr Grab sitzen. Nachdem ich mich umgesehen habe, ob jemand in der Nähe ist, singe ich ein Lied und bete ein Vaterunser für sie. Das tue ich sonst nie, aber das Beten gehörte zu Tante Anna wie der Geruch nach Honig und Rosenwasser. Wir hatten immer, wenn ich bei ihr schlief, gemeinsam vor dem Bett gekniet und ein Abendgebet gesprochen, den Blick gerichtet auf ein Jesusbild an der Wand, mit dornengekröntem Herzen vor seiner Brust. Außer einem verblassten Blumenstrauß aus Plastik, der aller Wahrscheinlichkeit nach von Annas einziger Nichte, Charlotte aus Wiener Neustadt, stammt, habe ich nie Schmuck oder Kerzen auf dem mit Immergrün bedeckten Grab gesehen.
Vor dem Frühstück gehe ich in den Garten, der nach dem nächtlichen Regen in intensiven Farben leuchtet. Es ist einer dieser warmen Tage, an denen man draußen arbeiten kann. Ich wohne gern in der alten Fabrik, in die Phillip und ich vor ein paar Jahren mit einigen Leuten eingezogen sind. Wir haben lange gesucht und durch einen befreundeten Architekten sind wir auf Personen aufmerksam gemacht worden, die sich mit der Umnutzung alter Fabrikgelände beschäftigten. Nach anfänglicher Skepsis, wegen der stillgelegten Industriebetriebe in unmittelbarer Nähe, fand ich heraus, dass die Stadtverwaltung im Hinterland der ehemaligen Docks, die aufwendig zu Wohnhäusern ausgebaut worden waren, weitere Siedlungen plante, das versprach für die Zukunft eine lebendigere Nachbarschaft. Die Aussicht auf einen großen Garten war für mich die Erfüllung der lange gehegten Hoffnung, eines Tages Gemüse und Blumen selbst zu ziehen. Es war eine Art des Nachhausekommens, weil ich mich an die Zeit im Schrebergarten erinnerte, die ich mit Vater beim Gießen der Salatpflanzen im Mai, beim Kartoffelkäfersammeln, beim Binden der Tomaten an die von ihm eigens dafür gespitzten Stöcke aus Haselnusszweigen, verbracht habe. Als wir nach der anstrengenden Zeit des Umbaus mit ständigen Verzögerungen endlich nach zwei Jahren einziehen konnten, wollten wir eine Familie gründen, doch ich wurde nicht schwanger. Nach langwierigen medizinischen Abklärungen entschlossen Phillip und ich uns zu einer künstlichen Befruchtung. Als ich Mutter von der Schwangerschaft während einem ihrer Londonbesuche erzählte, strahlte
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