Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
geöffneten Mund hinauf zu den grünen Nadelzweigen des über unseren Köpfen im Gepäcknetz verstauten Baumes, der mit seinem nassen Waldduft das Abteil erfüllte. Am Heiligen Abend stand der Baum in unserem Wohnzimmer, geschmückt mit meinen Bastelarbeiten, mit Engelshaar und weißen Stoffmaschen, die Mutter aus einem alten Leintuch genäht und dann mit Stärke aufgebügelt hatte.
Tags darauf griff ich zaghaft zum Telefonhörer und bemerkte, wie mein Herz schneller zu pochen anfing, während ich einige Zeit dem Freizeichen zuhörte, das sich von dem in England unterschied und mir fremd geworden war, weil ich so lange nicht mehr mit Mutter in Basel telefoniert hatte. Nachdem sie endlich abgehoben und sich mit ihrer dunklen Stimme gemeldet hatte, überlegte ich, den Hörer wieder aufzulegen, aber dann bedankte ich mich für das unerwartete Paket und konnte sie fragen, wie es ihr ginge. Es folgten in den nächsten Wochen zaghafte Gespräche, in denen wir Vaters Tod und die Zwillinge ausklammerten. Ich bemühte mich, Mutter mit anderen Augen zu sehen, und wenn ich daran dachte, wie sie aufgewachsen war und was sie in den letzten Jahrzehnten alles erlebt hatte, gelang mir das auch in Ansätzen. Ich war doch froh, sie wieder in meinem Leben zu haben, nach der Zeit des Schweigens zwischen uns, in der ich mir jegliche Erinnerungen an meine Kindheit verboten hatte. Ich wollte über viele Jahre nicht mit den dunklen Zeiten in Berührung kommen, die mit dem Unfall von Vater und seinem Tod verbunden waren. Durch die wiederholten Telefongespräche mit Mutter tauchte gerade diese Zeit wieder auf, und ich machte stichwortartige Notizen zu einzelnen Szenen, an die ich lange nicht gedacht hatte. Da waren auf ein Mal wieder meine grünen Wanderhosen, von Mutter genäht, und die roten Strickstrümpfe, die Tante Else aus einem Wollwarengeschäft im ersten Bezirk mitgebracht hatte, zusammen mit dem weißrot karierten Hemd. Vater hatte damals behauptet, ich sähe aus wie Peter Roseggers »Waldbauernbub«, das Buch mit diesem Titel ist bei uns in der Bibliothek im Wohnzimmer gestanden, es beschrieb eine ländliche längst vergangene Idylle. Daneben stand Paula Wallischs »Ein Held stirbt«, ein Bericht über die Flucht und Gefangennahme ihres Mannes, eines Arbeiterführers, der nach dem Februaraufstand 1934 standrechtlich gehenkt worden war. Darin wurden die sozialen und politischen Gegensätze im obersteirischen Industriegebiet beschrieben. Beide Bücher hielt Vater in Ehren, wobei er sich über Rosegger mit seinem Bauernkitsch, wie er es nannte, durchaus lustig machen konnte, doch erinnerten sie ihn an die Landschaft, in der er aufgewachsen war und an seine Familie, die im Arbeiterstreik des Jahres 1934 auseinandergerissen worden war. Mutter wollte für mich in diesen Jahren ein Dirndl nähen, aber Vater war böse geworden, weil er diese österreichisch nationale Verblendung, wie er sie nannte, nicht in seiner Familie sehen wollte. Diesen Unfug mit den Trachten hätten die Austrofaschisten in den Dreißigerjahren als Uniformersatz eingeführt. Von dieser Vorstellung war Vater nicht abzubringen gewesen. Mutter hat mir dann ein anderes Kleid aus alter Bettwäsche genäht, ein weißes mit Spitzen durchwirktes Stück, das mir gut gefiel, aber ich konnte es nirgends anziehen, weil es übertrieben festlich wirkte. Wie ein Brautkleid fast, was mich, als mir das meine Freundin Klara einmal sagte, erst recht davon abhielt, es zu tragen.
Mutter und ich sind damals kurz vor Vaters Tod zusammen in eine kleine Wohnung gezogen, zwei Zimmer waren es und eine Küche mit Blick in den Hinterhof. Ein Zimmer für mich, das andere so etwas wie ein Wohnzimmer, in dem sie abends, wenn ich schon im Bett war, das Sofa auszog, um dort zu schlafen. In der engen Küche war gerade zu zweit am Tisch Platz und beim Frühstück konnten wir den grauen zerrupften Tauben zusehen, die auf dem Dach des halb verfallenen Hinterhofhäuschens herumturtelten. Dieses den ganzen Tag hörbare monotone Gru-Gru fand ich trostlos. Vater war in der alten Wohnung geblieben, und ich verstand nicht, warum wir ihn dort allein ließen. Fast täglich besuchte ich ihn, abwechselnd mit Mutter, um das Essen vorbeizubringen, und war oft erleichtert, wenn ich nach meinen Besuchen wieder weggehen konnte, auch wenn mich deshalb ein schlechtes Gewissen plagte. Noch heute glaube ich, Vater hätte weitergelebt, wenn Mutter und ich damals geblieben wären und für ihn gesorgt hätten. Sie hatte
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