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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Fahrt hierher besucht hatte, im Bug der Prinsen? Verduftet. Hatte nicht einmal einen kleinen Gruß hinterlassen. Ab jetzt musste ich mich von der Welt fernhalten. Ich ging ums Haus und redete lange mit mir selbst. Mutter stand auf der Terrasse.
    »War das Lisbeth, die dein Fahrrad ausgeliehen hat?«, fragte sie.
    »Ja. So ungefähr.«
    »Ungefähr?«
    »Ja. Ungefähr.«
    Mutter beschattete ihre Augen, um mich besser zu sehen.
    »Worüber habt ihr geredet?«
    »Über nichts.«
    »Habt ihr so lange über nichts geredet?«
    »Das geht dich nichts an.«
    Ihre Hände fielen hinunter.
    »So war das nicht gemeint. Ich versuche ja nur …«
    Sie kam nicht weiter, ich unterbrach sie.
    »Was versuchst du nur?«
    »Dich zu verstehen, Chris. Weiter nichts.«
    Jetzt war ich an der Reihe, meine Augen zu beschatten, nicht um besser zu sehen, sondern um mich zu verstecken.
    »Wir haben über ihre Zahnspange geredet. Sie muss jetzt eine Zahnklammer tragen. Mehr war es nicht.«
    »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
    »Mir auch nicht. Am Sonntag will sie ein Fest geben.«
    »Am Sonntag? Wenn sie auf dem Mond landen?«
    » Falls sie auf dem Mond landen.«
    »Sind ihre Eltern auch da?«
    »Weiß ich nicht.«
    Mutter drehte sich kurz zur Seite, ein Ruck durchfuhr sie, ein Zittern, eine Lawine, der gleiche Erdrutsch, den ich viele Jahre später sehen würde, in der Küche in der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, als eilten mir Zeit und Entfernung, mein eigenes Alter, voraus.
    »Ich dachte, wir hören uns die Übertragung zusammen an«, sagte sie schließlich.
    »Die haben einen Fernseher.«
    Ich holte die Dose. Das Durcheinander war kein Problem. Ich brauchte die Leine nicht. Ich schnitt das Vorfach ab, löste den Haken, und da lag der Blinker in meiner Hand, ein Schmuckstück, das ich den restlichen Abend putzte und rieb, damit es etwas anderes wurde, als es bisher in diesem Sommer gewesen war.
    Es soll anfangen zu regnen. Es fängt an zu regnen. Wir müssen Schutz im Badehaus suchen. Wir suchen Schutz im Badehaus. Ich will die Gardinen vorziehen. Ich ziehe die Gardinen vor. Ich will die Tür verschließen. Ich verschließe die Tür. Ich will mich neben sie setzen. Ich setze mich neben sie. Sie soll bereit sein. Sie ist bereit. Ich will sie küssen. Ich küsse sie. Ich will ihre Brüste anfassen. Ich fasse ihre Brüste an. Ich will die andere Hand näher zur Möse schieben. Ich schiebe die andere Hand näher zur Möse. Das soll wie geschmiert gehen. Das geht wie geschmiert. Sie soll schwer atmen und ja sagen. Sie atmet schwer und sagt ja. Ich will ihren Namen flüstern. Heidi. Ich flüstere ihren Namen. Heidi. Sei vorsichtig, soll sie flüstern. Ich bin vorsichtig. Ich will eine Hand unter ihren Slip schieben. Ich schiebe eine Hand unter ihren Slip. Ich will …
    »Christian!«
    Ich wachte mit einem lautlosen Ruck über dem leeren Blatt Papier in meiner weißen Bibliothek auf und hatte keine Ahnung, was mich zuerst geweckt hatte, meine unsichtbaren Worte oder Mutter. Ich zog die Gardinen zur Seite. Sie stand am Fahnenmast und hielt die Flagge wie ein Kind in ihren Armen. Es war also Sonntag und nicht irgendein Sonntag, sondern der Sonntag. Heute sollten die Menschen sich den Mond vorknöpfen. Heute sollte der Mond es büßen. Mutter winkte. Normalerweise war es Vater, der die Flagge hisste. Aus guten Gründen konnte er es an diesem Tag nicht tun, da er sich ja das Bein gebrochen hatte und in der Stadt im Bett lag. Da hätte er Gedankenübertragung verwenden müssen, und das machten Architekten nicht. Ich beendete meine Gedankenreihen im Waschbecken. Dann ging ich ruhig hinaus.
    »Die Fahne darf nicht auf den Boden kommen«, sagte sie.
    »Was passiert, wenn sie es doch tut?«
    »Ich weiß nicht, ob dann etwas passiert, aber so ist es nun einmal. Fass hier an.«
    Ich hielt die norwegische Flagge, während Mutter sie an dem Seil befestigte, und ich hatte große Lust, einfach loszulassen, nur um zu sehen, ob dann etwas passierte. Natürlich würde nichts passieren, aber trotzdem. Es konnte ja sein, dass die Badehäuschen zu brennen anfingen, dass die Flugzeuge abstürzten, dass mein Gedicht fertig werden würde. Zum Schluss konnte ich nicht mehr. Es war unvermeidlich. Ich ließ einen Zipfel der Fahne über den Boden schleifen, und es passierte. Es passierte! Ein Satz entstand in mir. Eine Zeile war geboren. Der Mond hält die andere Wange hin. Noch nie war ich einer absoluten Erleichterung näher gekommen. Alles ging auf, in einer

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