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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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wunderbaren Rechnung, eine goldene Formel, die nur ich kannte, eine logische Magie, die nur mir gehörte, mir und niemandem sonst. Wenn ich die ganze Fahne auf den Boden warf und darauf herumtrampelte, was würde dann nicht alles passieren können! Vielleicht stünde dann eine ganze Gedichtsammlung parat. Heute stand das Glück mir bei. Jetzt konnte ich einen neuen persönlichen Rekord aufstellen. Dann hissten wir die Flagge, zogen und zerrten, und bald entfaltete sie sich in einer Welle in Rot, Weiß und Blau, durch mich, allein durch mich.
    »Hast du dich schon entschieden?«, fragte Mutter.
    »Wozu?«
    »Was du heute Abend machen willst.«
    »Nein.«
    »Wozu hättest du denn am meisten Lust?
    »Weiß nicht.«
    Mutter lächelte.
    »Du weißt es bestimmt. Musst nur ein bisschen überlegen.«
    Ich ging in mein Zimmer hoch und tat wie geheißen. Ich überlegte. Es half wenig. Nachdenken an sich hat nur selten geholfen. Es machte Schlimmes nur noch schlimmer. Es war nur ein Umweg. Und der Satz, den ich gepflanzt hatte, verdorrte auf der Stelle. Die Worte fielen von ihm ab, eines nach dem anderen, bis nur noch ein dünner, harter Stiel übrig war, und der Stiel, das war ich. So hoch ich gekommen war, so tief fiel ich nun. Ich legte mich aufs Bett und schattenboxte mit der großen Korrekturtaste. Es war das erste Mal, dass ich ihr nahe kam, der großen Korrekturtaste, die wegtippt, abreißt, ausstreicht und leert. Mit der Zeit würde ich sie gut kennenlernen. Der Mond hält die andere Wange hin. Was für ein Mist. Ich war froh, dass der Satz gestorben war. Mein Kopf war ein Mülleimer! Außerdem hatte ich an andere Dinge zu denken als an ungeschriebene Gedichte. Sollte ich zu Iver Malt gehen, auf das Fest bei Lisbeth oder ganz einfach zu Hause bleiben? Wozu hatte ich am meisten Lust? Die Antwort war glasklar, wenn man die Frage auf diese Art und Weise stellte. Ich hatte Lust auf Heidi. Ich hatte Lust, mit ihr im Badeschuppen zu schlafen. Ich hatte Lust, die Mondlandung zusammen mit ihr im Fernsehen zu sehen. Aber ich hatte keine Lust auf den Rest der Einladung, Lisbeths besoffenes Gelaber, Puttes schlechte Manieren und das versammelte niedrige Niveau der lächerlichen Bande. Ich wollte nicht auf verschiedenen Hochzeiten tanzen. Ich wollte eine Hochzeit. Ich hätte auch die Fähre in die Stadt nehmen und Vater besuchen können. Allein der Gedanke beunruhigte mich. Da stimmte etwas nicht. Ich wusste nicht, was es war. Wodurch ich noch unruhiger wurde. Der Bogen in der Schreibmaschine verhöhnte mich. Was sollte ich mit einem Titel ohne Gedicht? Ein Titel ohne Gedicht war genauso vergeblich wie ein Name ohne Mensch. Ich geriet in Panik. Alles, was ich nicht schaffte. Alles, was ich nicht fertig bekommen würde. Alles, was ich niemals schaffen würde. Alles, was an einem dünnen Faden hing, und das war das meiste, besonders ich, mein Faden war der dünnste, ich fühlte mich wie ein Bleilot, befestigt an den Resten eines Spinnengewebes. Ich dachte an das, was Iver gesagt hatte, dass es Henry, den Deutschenbalg, nicht gab. Ja, das wäre eine Erleichterung gewesen, wäre es, wenn es ihn nicht gäbe, abgesehen davon, dass ich auf keinen Fall in einer Erdhütte leben wollte. Dann versuchte ich auszurechnen, wie viele Uhren es im Haus gab, und ich kam auf acht: zwei Standuhren, eine Wanduhr in der Küche, meine Armbanduhr, Mutters Armbanduhr, eine alte Armbanduhr, die Vater in den Ferien benutzte, und zwei Wecker. Und da hatte ich die Sonnenuhr nicht mitgerechnet, die irgendein Urgroßvater vor dem Ersten Weltkrieg an dem leeren Karpfenteich gebaut hatte, aber er hatte nicht daran gedacht, dass Rhododendron und die Birken mit den Jahren wuchsen, und jetzt war die Sonnenuhr stehen geblieben, sie war in den Schatten geraten, und die einzige Möglichkeit, sie wieder zum Laufen zu bringen, wäre, den ganzen Garten abzuholzen, schattenfreier Himmel und Geduld. Es gab also neun Uhren, und sie gingen entweder zu schnell, zu langsam oder sie standen still. Die Zeit war eine Verschwörung. Die Zeit ging in alle Richtungen. Und bald machten sich die Astronauten dort draußen in dem großen Ballsaal bereit, putzten ihre Schuhe, rückten die Manschettenknöpfe zurecht, zogen die Krawatten fester, kämmten sich die Haare und forderten Schutzengel zum Tanz auf, ich nehme an zu einem Foxtrott.
    Ich traf die Entscheidung, die ich schon vor langer Zeit getroffen hatte. Ich ging zu Lisbeths Fest. Trotz allem hatte nur sie Fernsehen. Mutter brachte

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