Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
mich bis zur Pforte. Das hätte sie sich schenken können. Ich wollte ja nicht für immer gehen. Vielleicht wollte sie sich auch vergewissern, dass ich keine Kiste Bier in der Heide versteckt hatte. Hatte ich aber nicht. Eigentlich mochte ich gar nicht trinken. Ich hatte auch so genug Schwung auf der Kopfhaut.
»Kommen viele?«, fragte Mutter.
»Keine Ahnung.«
»Aber du bist doch wohl nicht der Einzige?«
»Das will ich doch nicht hoffen. Dann werde ich auf jeden Fall sehr früh wieder zu Hause sein.«
Mutter öffnete die Pforte.
»Ich hoffe nur, dass du auf dich aufpasst«, sagte sie.
Diese Worte wirkten fast lähmend auf mich. Ich konnte nicht glauben, dass sie sie gesagt hatte. Ich blieb stehen.
»Warum sollte ich nicht?«
»Ich sag es ja nur, Christian. Nicht …«
»Warum sollte ich nicht auf mich aufpassen können?«
»Ach, das sagt man doch nur so. Nimm es nicht so wichtig.«
»Warum hast du es dann gesagt?«
»Ich sage so viel dummes Zeug. Nicht …«
»Glaubst du nicht, dass ich auf mich aufpassen kann?«
»Natürlich kannst du das. Ich wollte dich nur bitten, vorsichtig zu sein. Und nicht …«
Ich zog die Pforte heran und lief den Hügel hinunter. Diese Worte hämmerten weiter in mir. Ich hoffe, du kannst auf dich aufpassen. Diese Worte, oder der Zweifel, den sie beinhalteten, der Zweifel an mir, setzte sich fest. Es war nicht möglich, ihn aus dem Weg zu schaffen. Sie zogen mich immer tiefer in Zweifel. Ich lief den ganzen Weg, bis auf das letzte Stück. Das Fest war schon gut im Gange. Lisbeth prügelte sich mit dem, der Gregers hieß, was ziemlich witzig aussah. Sie standen aneinandergeklebt da, Lisbeth ruderte mit den Armen und prügelte auf seinen Schädel ein, zog ihn mit beiden Händen an den Haaren und trat um sich, während der Rest der jämmerlichen Bande drum herum stand, sie anfeuerte und sich totlachte. Heidi konnte ich nirgends entdecken. Ich ging zu ihnen. Es stellte sich heraus, dass Lisbeth und Gregers sich eigentlich gar nicht prügelten. Sie hingen aneinander fest und versuchten voneinander loszukommen. Sie kamen aber nicht los. Es sah aus, als wären sie siamesische Zwillinge, die Münder miteinander verwachsen, und jetzt waren sie einander verdammt leid. Die Sache war die, dass Gregers ihr einen Kuss abgeluchst hatte, dabei aber nicht in Betracht gezogen hatte, dass er auch eine Zahnklammer trug, keine besonders große, nur etwas Stacheldraht entlang der Backenzähne. Und das war mehr als genug. Die Zahnspangen verhedderten sich ineinander. Gregers musste wohl ziemlich gierig gewesen sein. Aber jetzt prahlte er nicht mehr besonders laut. Lisbeth war dabei, ihn umzubringen.
»Das nenne ich wahre Liebe«, rief Putte. »Oder was meinst du, Blackie? Du kennst dich doch mit so was aus.«
»Ich bin kein Zahnarzt. Aber ich glaube, die brauchen eine Metallsäge.«
Lisbeth wurde noch wilder und schleppte Gregers mit sich. Sie schleppte ihn mit dem Mund. Er hatte schon seit langem aufgegeben. Wir lachten. Ich lachte. Wir applaudierten. Ich applaudierte. Da kam Heidi mit einer Schere auf die Terrasse. Sie sah mich nicht. Sie konnte Lisbeth so weit beruhigen, dass sie vorsichtig die Schere zwischen sie schieben konnte, während wir Gregers festhielten. Das war Mund zu Mund mit Schere. Aber die Schere war nicht scharf genug. Putte holte eine Kneifzange. Für die war nicht genug Platz. Stattdessen öffnete er mehr Bier und prostete ihnen zu.
»Möget ihr euch in guten wie in schlechten Tagen lieben, bis dass der Tod euch scheidet!«
So langsam bekam Gregers ernsthaft Atemnot. Sein Gesicht wurde tiefblau. Lisbeth hatte roten Schaum in den Mundwinkeln. Sie knieten voreinander, zwei zum Tode Verurteilte, die einander hinrichten sollten. Zum Schluss fand Heidi eine Haarnadel, die sie auseinanderbog, und mit der es ihr gelang, die beiden aufzubrechen. Es war genau wie bei Iver Malt, als er das Zahlenschloss meines Fahrrads aufbrach, aber ich wollte jetzt nicht an Iver Malt denken, ich dachte nicht an ihn. Die zum Tode Verurteilten waren begnadigt worden. Gregers fiel ins Gras und blieb dort liegen. Lisbeth stand schreiend, heulend und weinend auf.
»Hol euch der Teufel! Hol euch alle zusammen der Teufel!«
Dann fing sie an, die ganze Zahnspange herauszureißen. Das Blut lief ihr aus dem Mund. Was sie gar nicht interessierte. Sie spuckte und zischte, bis Heidi sie ins Haus bringen musste, und dort blieben sie eine ganze Weile. Wir legten Gregers in die Hollywoodschaukel, fütterten
Weitere Kostenlose Bücher