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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ihn mit kalten Würstchen und schalem Bier, und langsam beruhigten sich die Dinge ein wenig. Sagte ich Wir? Ich gehörte nicht zum Wir. Ich war nicht mit dabei. Ich war nur ein Zuschauer. Ich griff nicht ein. An diesem Abend tat ich nichts anderes, als alles zuzulassen. Und dennoch schreibe ich Wir. Putte reichte mir eine Flasche.
    »Scheiße, Blackie. Sieht ja so aus, als wärst du seit dem letzten Mal hellbraun geworden. Das ist aber blöd von dir. Denn jetzt müssen wir noch einen neuen Namen für dich finden.«
    »Wittling«, schlug der vor, der Patrick hieß und nicht mehr Fantasie als eine Büroklammer hatte.
    Putte goss einen Schluck Bier über mich.
    »Hiermit bist du auf Wittling getauft! Ein Prost auf den Wittling, Wittling!«
    Putte biss mir in den Arm, um zu testen, ob da viele Gräten waren. Dann gurgelten wir mit noch mehr Bier und lachten, und ich lachte zusammen mit ihnen. Warum lachte ich? Warum ließ ich es zu? Ich glaube, die Antwort war einfach: Heidi. Aber die Antwort reichte nicht. Ich ließ es nicht einfach nur zu, wie mit mir umgegangen wurde, wie ich ihretwegen gedemütigt und verspottet wurde. Ich konnte niemand anderem als mir selbst die Schuld daran geben. Ich hatte keinen Willen, abgesehen von dem Willen zu schreiben, und selbst damit war es nicht weit her. Was hatte ich denn bisher geschrieben? Ein einziges Gedicht mit fünf Zeilen. Ich hatte nicht den Willen dazu, ich hatte nur Lust. Ansonsten war ich willenlos. Ich ließ mich lenken. Ich war in der Gewalt der anderen. Das Einzige, das mich noch aufrecht hielt, war der Gedanke, dass ich bald darüber schreiben würde, ja, das würde ich, bald, und dann würde ich es diesen elenden Buchhaltern zeigen. Übrigens wurde ich letzten Monat sechzig. Habe ich das nicht schon erwähnt? Und wenn man dann noch all die Jahre hinzufügt, in denen ich so schwer und hart lebte, dass mein Herz zwei Jahre für jedes zählte, das verging. Ich feierte das Ereignis, es war nämlich ein Ereignis, dass ich überhaupt lebte, allein in einem Hotel in einer Stadt, von der ich immer sicherer bin, dass sie gar nicht existiert. Ich nutzte die Gelegenheit, den Stimmen in mir zu lauschen, nicht dieser Art von Stimmen, wie pathetische Mörder, mit ein wenig Hilfe ihrer Anwälte, behaupten, dass sie ihnen befohlen hatten, ihre Untaten zu begehen. Ich lauschte den Stimmen, die meinen Lebensaltern angehörten, und es war eine Weile her, seit ich sie hatte sprechen lassen, die Stimme des Kindes, die Stimme des Jungen, die Stimme des Mannes, aber ich war nicht mehr in der Lage, sie voneinander zu unterscheiden. Sie waren mein gemischter Chor. Sie sangen in mir gleichzeitig. Und das mit einer gewissen Müdigkeit, wie nach einem sehr, sehr langen Arbeitstag, wenn man die Nacht und den Schlaf willkommen heißt, das notiere ich mir. Das Lied hieß Nachwelt.
    Schließlich kamen die Mädchen zurück. Lisbeth schien wieder einigermaßen in Stand gesetzt zu sein, zumindest war das Gerüst wieder an Ort und Stelle, aber sie war immer noch wütend.
    »Ihr seid ja so verdammt kindisch!«, rief sie. »Ich kapier überhaupt nicht, warum ich euch eingeladen habe!«
    »Weil du sonst niemanden hast, den du einladen kannst, Klammi«, sagte Putte.
    Lisbeth schien in sich zusammenzufallen, und ich hatte Angst, sie könnte anfangen zu weinen. Putte öffnete ein Bier und warf es ihr zu, und sie fing es in einer Wolke aus Schaum auf.
    »Nun beruhige dich, Klammi. Wir haben doch hier unseren Spaß, nicht wahr? Nicht wahr, wir haben doch unseren Spaß?«
    Ich lachte über den neuen Namen. Klammer – Klammi. Was für eine Idee.
    »Nenn mich nicht Klammi!«
    Lisbeth beruhigte sich wieder und gab gleich mal Gregers, der schon eine ganze Weile als vermisst gemeldet worden war, noch eine Ohrfeige. Er fiel aus der Hollywoodschaukel, und das Fest konnte drinnen weitergehen, im Wohnzimmer, in dem der Fernseher lief. Aber ich war mehr an Heidis Sendung interessiert, sie zog sich zurück, hinunter zum Badehaus, und das tat ich auch. Ich zog mich zurück. Nichts kam mir gelegener. Sie drehte sich erst um, als sie auf dem schmalen Anleger angekommen war.
    »Das war nicht witzig«, sagte sie.
    »Was?«
    »Lisbeth. Gregers. Die Zahnspangen. Das war nicht witzig.«
    »Ein bisschen schon«, sagte ich.
    Sie schaute mich an, und wir fingen gleichzeitig an zu lachen. Wir konnten nicht mehr aufhören. Die Krebse flohen. Die Möwen stürzten davon. Der erloschene Leuchtturm leuchtete für einen Moment auf, blinkte,

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