Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Zweite Klasse im Gymnasium und Zahnspange. Das ist ein sehr ungleiches Paar.
»Weil du Heidi warten lässt, du Wirrkopf. Die ganze Zeit warten. Soll sie vergeblich warten? Denn dann werde ich ihr sagen, dass sie sich einen neuen Kavalier suchen soll, der etwas schneller am Abzug ist.«
»Aber sie ist doch einfach gegangen.«
»Ist sie einfach gegangen?«
»Sie saß hier auf der Terrasse. Und dann ist sie gegangen. Ohne etwas zu sagen, ist sie weggegangen.«
Lisbeth rollte näher und blinzelte.
»Vielleicht bist du ja auch nicht ganz dicht in deinem kleinen Köpfchen.«
»Das jetzt auch noch? Ein Wirrkopf, nicht ganz dicht und ein Versager?«
»Ist doch fast das Gleiche, weißt du.«
»Muss man nicht ganz dicht sein, um ein Versager zu sein?«
»Sag mal, hattest du nie Werken in der Grundschule? Es kommt vor, dass Mädchen sich ganz plötzlich zurückziehen müssen, verstehst du?«
Ich zeigte auf ihren Mund.
»Hast du deine Zähne kaputtgemacht?«
»Machst du dich lächerlich über mich, Blackie?«
»Ganz und gar nicht. Ist doch nicht peinlich mit einer Zahnspange.«
»Hat jemand gesagt, dass es das ist? Peinlich mit einer Zahnspange?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Eigentlich nicht? Warum sagst du es dann?«
»Ich habe es nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass es nicht peinlich ist, eine Zahnklammer zu tragen. Das ist doch irgendwie genau das Gegenteil.«
»Aber dann muss doch jemand vorher gesagt haben, dass es peinlich ist. Findest du, es ist peinlich, eine Zahnspange zu tragen?«
»Überhaupt nicht. Die steht dir. Die Klammer, meine ich.«
»Und wenn ich die Klappe halte, kann sie niemand sehen.«
»Ja, ganz genau. Aber schaffst du das, Lisbeth?«
Sie lachte, und einen Moment lang sah ihr Mund aus wie ein Gitter.
»Bin im Badezimmer hingefallen und mit dem Kinn auf das Waschbecken gefallen. Die ganze Zahnreihe wurde neu eingerichtet. Muss den Mist noch vier Wochen tragen.«
»Das schaffst du bestimmt.«
»Weißt du was, Blackie?«
»Gibt es noch mehr, das ich nicht weiß?«
»Ich glaube, du schreibst zu viele Gedichte. Davon wirst du ganz dumm in deinem armen Schädel.«
Lisbeth ging zur Pforte. Dort blieb sie stehen und drehte sich um. Da sah ich, wie heruntergekommen sie war. Es schien, als müsste sie erst weit von mir entfernt sein, bevor ich es klar und deutlich sehen konnte, dass sie heruntergekommen war. Wie Mutter gesagt hatte: Sie hatte abgenommen. Es lag nicht an der Zahnspange, die machte die unreinen Züge nur noch deutlicher. Sie warf ein kindliches Licht auf das ungepflegte Gesicht. All die Einsamkeit war in ihr auf der Hut.
»Ich gebe Sonntag ein Fest. Kommst du?«
»Da habe ich eigentlich schon eine andere Verabredung.«
»Bitte. Heidi zuliebe.«
»Dann ist die Mondlandung.«
»Deshalb gebe ich ja das Fest.«
»Mal sehen.
»Prima. Aber bring Iver nicht mit. Wir wollen nicht angesteckt werden, nicht wahr?«
»Angesteckt, womit?«
»Barackenkrankheit. Und wir haben Fernsehen. Dann kommst du doch?«
»Vielleicht.«
Lisbeth lachte und warf mir von der Zahnklammer einen Kuss zu.
»Übrigens jedes Mal sehr anregend, mit dir zu reden, Chris!«
Ich schob das Fahrrad zum Haus und stellte es dort ab. Aber ich wusste nicht, wo ich mich selbst abstellen sollte. Ich fand keinen freien Platz. Wartete Heidi wirklich darauf, dass ich käme? Oder war es nur etwas, das Lisbeth, zu der niemand mehr zur Geburtstagsfeier kam, sich ausgedacht hatte? Bei den meisten hatte ich so meine Zweifel. Es gab zu viele Möglichkeiten. Und je mehr Möglichkeiten es gab, umso schlechter gelang es mir, mich zu entscheiden. Das Einzige, dessen ich sicher war – ich wollte schreiben. Aber die Welt brachte mir alles durcheinander. Die Menschen warfen mir ihre Knüppel zwischen die Speichen. Wieder wurde ich stinkwütend. Ich sollte glücklich sein. Aber Glück war nicht gerade meine stärkste Seite. Mein persönlicher Rekord in Glück belief sich auf zwanzig Sekunden. Das war ungefähr noch kürzer als zweimal Sechzigmeter. Ich stoppte die Zeit, als ich mein erstes ordentliches Gedicht schrieb, über die Uhren am Drammensveien, das zu drucken ich »Kvinner og Klær« verboten hatte. Aber wenn ich genauer überlegte und nachrechnete, hatte vielleicht das Glück, als ich erfuhr, dass sie es drucken wollten, noch länger gewährt, und sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein? Vielleicht war mein erstes Gedicht ja auch mein letztes. Und wo war die Freiheit geblieben, die mich auf der Fähre auf der
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