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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Korrekturtaste. Aber was soll man mit einer Korrekturtaste, wenn man nichts zu korrigieren hat? Dann fiel mir etwas ein, was Mutter gesagt hatte: Das geht uns nichts an. Seit damals habe ich an diesen kleinen, einfachen Satz so gut wie jeden Tag denken müssen, und ich gebe meiner Mutter recht. Es muss nicht alles auf den Tisch. Einiges sollte man zurückhalten. Einige Schränke sollten verschlossen bleiben. Einige Steine sollten dort liegen bleiben, wo sie liegen. Ohne Geheimnisse sind wir Barbaren.
    Eines Morgens war auch in der Dose ein Wirrwarr entstanden, ein riesiger, steinharter Knoten, der sich nicht so ohne weiteres wieder lösen ließ. Ich verstand nicht, wie das passieren konnte? Mit den Tasten war es das Gleiche. Wie beginnt ein Wirrwarr? Oder wo beginnt es? Hatte die Leine im Laufe der Nacht ein Eigenleben bekommen und beschlossen, Ärger zu machen? An einer Stelle, zu einem Zeitpunkt muss es ja anfangen, der erste, unselige Knoten, der sich mitten in dem großen Knoten formiert, der langsam aber sicher auch dich in ein Wirrwarr verknotet, dessen Ursprung du nicht kennst. Was sonst war denn dieser elende Globus anderes als ein Knoten im Universum? Jetzt hatte ich es. Deshalb fuhren sie zum Mond, um den Faden herauszuziehen, der den Knoten lösen konnte, in den die Menschen verheftet und gebunden waren.
    Da hörte ich, wie jemand den Kiesweg von der Pforte heraufkam. Wen erhoffte ich mir wohl? Ich hoffte, es wäre niemand. Ich hoffte, es wäre Heidi. Ich hoffte, es wäre Vater. Es war Lisbeth. Sie hatte mein Fahrrad bei sich. Sie blieb ein Stück entfernt stehen. Ich ging hinunter zu ihr.
    »Schöner Fahnenmast«, sagte sie.
    »Hast du mein Fahrrad geklaut?«
    »Ja, natürlich. Es lag im Straßengraben hinten beim Krämer. Du solltest dich lieber bei mir bedanken.«
    »Du lügst.«
    »Na und? Ist doch egal. Hier ist es. Nicht eine Schramme. Aber du solltest dir ein neues Schloss anschaffen.«
    Lisbeth ließ lachend das Fahrrad los. Ich konnte gerade noch das Lenkrad fassen, bevor es umkippte.
    »Was willst du eigentlich?«, fragte ich.
    Sie lachte nicht mehr, starrte mich nur an. Das war unangenehm. Ich schaffte es nicht, ihren Blick zu erwidern. Es gibt wenige Blicke, die ich erwidern kann, und diesen hier erst recht nicht. Deshalb glauben alle, zumindest ziemlich viele, dass ich etwas zu verbergen habe, dass ich ein schlechtes Gewissen habe. Als würde es irgendetwas beweisen, wenn man jemandem in die Augen guckt. Hitler war gut darin, den Leuten in die Augen zu schauen. Übrigens haben die meisten recht, wenn sie glauben, ich hätte etwas zu verbergen oder ein schlechtes Gewissen, was ja eigentlich auf das Gleiche hinausläuft.
    »Weißt du was, Chris?«
    »Nein, was denn?«
    »Wenn ich es wäre, die mit dir zusammen ist, dann hätte ich auf der Stelle Schluss gemacht.«
    Ich verstand nicht, was sie meinte. Wenn sie es wäre, die mit mir zusammen ist? Wollte Lisbeth mit mir zusammen sein? Und dann Schluss machen? Oder war ich mit jemand anderem zusammen? Ich stellte mich dümmer, als ich war, und versuchte schlau zu spielen.
    »Wie schade«, sagte ich.
    »Wie schade«, äffte sie mich nach.
    Wie sehr ich doch Rätsel hasste. Wie sehr ich alles hasste, was zwischen den Zeilen und den Worten stand. Und genau das gab es in rauen Mengen.
    »Was meinst du eigentlich damit?«
    »Was hat dein Gehirn eigentlich für fixe Ideen? Weißt du nicht, dass eigentlich eigentlich ein verdammt unhöfliches Wort ist?«
    »Ja und? Hat mein Gehirn wirklich fixe Ideen?«
    »Das weißt du selbst am besten, Blackie.«
    Ich blieb auf der Hut. Ich wurde wütend. Wussten andere etwas über mich, von dem ich nicht wusste, dass sie es wussten? Das sage ich doch immer: Es ist nicht nur zu viel Inhalt auf der Welt, es sind auch zu viele Menschen.
    »Scheiße, kannst du nicht einfach sagen, was du sagen willst und dann abhauen? Ich habe ein Durcheinander in der Dose!«
    Lisbeth verdrehte übertrieben die Augen und seufzte.
    »Durcheinander in der Dose, oh je. Ja, das kann ich nur bestätigen, das hast du.«
    »Und was meinst du jetzt damit?«
    »Willst du wirklich wissen, was ich eigentlich meine?«
    »Ich bin bereit zuzuhören. Mein ganzes Ohr ist ganz Ohr.«
    »Dass du ein Versager bist, Blackie.«
    »Ein Versager? Wieso das?«
    Lisbeth verdrehte wieder die Augen und gähnte. Erst da sah ich, dass sie eine Zahnklammer trug. Vielleicht machte nur das sie so anders. Plötzlich tat sie mir leid. Ich bekam direkt Mitleid mit ihr.

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