Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
und färbte den grauen Abend rot, und keine Raumfähre lief auf Grund. In den Tumulten gelang es mir, die schmale Tür zu öffnen, wir stolperten in den Badeschuppen und setzten uns jeder auf unsere Bank, als hätten wir bereits feste Plätze. Wir hörten auf zu lachen.
»Was fehlt Lisbeth eigentlich?«, fragte ich.
»Was ihr fehlt? Vielleicht ist sie einfach so.«
»Früher war sie nicht so.«
»Ihre Eltern wollen sich scheiden lassen.«
»Ist es üblich, dass sich Richter scheiden lassen?«
»Das ist zumindest der Grund dafür, dass sie nicht hier sind. Und deshalb haben sie mich gebeten, mitzukommen und auf sie aufzupassen. Ich bin sozusagen das brave Mädchen.«
»Das kriegst du gut hin.«
»Was? Ein braves Mädchen zu sein?«
»Auf sie aufzupassen. Auf Lisbeth.«
Eine Weile blieben wir schweigend sitzen, und ich suchte nach etwas, was ich hätte sagen können, während ich den Wellen unter uns lauschte, die langsam aber sicher an den Uferfelsen nagten. Eines Tages würde alles Land verschwunden sein. Ich war froh, dass ich das nicht mehr erleben würde. Ich schob eine Hand in die Tasche und vergewisserte mich, dass der Blinker, ich meine, das Schmuckstück, dort lag. Übrigens hing eine leere Luftmatratze an der Wand.
»Was glaubst du, wie spät ist es auf dem Mond?«, fragte ich.
»Genauso spät wie hier?«
»Aber wir haben nicht die gleiche Uhrzeit wie die in Amerika. Wir sind denen ungefähr sieben Stunden voraus. Und weißt du, was das bedeutet?«
»Das sie uns sieben Stunden hinterherhinken.«
»Genau. Und wenn es die gleiche Uhrzeit auf dem Mond wie in Amerika ist, dann landet die Apollo hier sieben Stunden früher als in Amerika. Stimmt’s?«
Heidi schaute mich nur an, stützte ihr Kinn auf die Hände und sah mich an. Ich konnte nicht aufhören.
»Aber zuallererst landen sie in Australien. Das ist uns nämlich wiederum 20 Stunden voraus. In Australien ist es bereits Montag. Soll ich die Matratze aufpumpen?«
»Hast du Lust zu baden?«
»Nein.«
Heidi sah mich immer noch an, und jetzt war es mir wirklich nicht mehr möglich, aufzuhören. Ich musste einfach damit weitermachen, nicht aufzuhören. Ich suchte nach einer Pumpe und fand keine. Ich musste die Luftmatratze also selbst aufpumpen. Ich öffnete das Ventil und fing an zu pusten. Das war eine ungewöhnlich anspruchsvolle Matratze. Acht Mal musste ich tief Luft holen und hörte, wie die Luft wieder entwich, obwohl ich das verfluchte Ventil so fest umklammerte, wie ich nur konnte, es schmeckte nach Salzwasser, Algen und alter Sonnencreme. Eine Weile glaubte ich, ich würde es niemals schaffen, da genauso viel wieder entwich, wie ich hineinkeuchte, oder umgekehrt. Es war typisch für diesen Sommer, dass alles, was ich loswerden wollte, nicht losließ. Letztendlich schaffte ich es doch. Ich schraubte den Verschluss rein, ließ mich auf die Bank sinken und hatte das Gefühl, dass die Matratze mich aufgepumpt hatte. Es war übrigens gerade genug Platz für sie auf den Holzplanken zwischen uns.
»Auf welche Schule wirst du im Herbst gehen?«, fragte Heidi.
»Weiß noch nicht. Und du?«
»Vater will, dass ich am Wirtschaftsgymnasium anfange.«
»Und hast du Lust dazu?«
»Nein. Schon gar nicht, weil Putte und seine bescheuerten Freunde auch dorthin gehen.«
Wir lehnten uns aneinander, das heißt, ich war es, der zuerst die Gelegenheit ergriff, und dadurch, dass sie es auch tat, wurde ich so mutig, ihr meine Hand aufs Knie zu legen, und dort durfte meine Hand so lange friedlich liegen, dass ich mir keinen anderen Ausweg wusste, als sie weiter auf ihrem Schenkel hochzuschieben, und da war es eigentlich gar nicht mehr so weit.
»Ich werde auf jeden Fall im französischen Zweig anfangen«, sagte ich.
»Französisch? Kannst du Französisch?«
»Non. Deshalb will ich es ja lernen. Die besten Gedichte der Welt sind auf Französisch geschrieben. Baudelaire. Rimbaud. De Gaulle. Ich meine Baudelaire.«
Heidi lächelte.
»Den hast du bereits genannt, Baudelaire.«
»Ja, Baudelaire. Ich will ihn in der Originalsprache lesen, nicht wahr? Sonst kann ich ja nicht sicher sein, ob das, was ich lese, auch richtig ist, nicht wahr?«
»Ja. Nicht wahr?«
»Das habe ich ja gerade gesagt, nicht wahr?«
»Warum sagst du die ganze Zeit nicht wahr?«
Ich redete mich um Kopf und Kragen. Es war meine Art, zu prahlen. Tante Soffen in der Hinterhand zu haben, war gar nicht schlecht, wenn man es recht betrachtete, Tante Emilie auch nicht, wie auch den
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