Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
nicht raus.«
»Du lässt mich nicht rein. Genau das tust du, und so kommt es aufs Gleiche raus.«
»Wir können morgen angeln gehen. Oder ein andermal. Oder ich kann dir Lesen beibringen.«
Iver Malt schaute zu Boden und spuckte aus, ein dicker Rotzklumpen, den er mit den frisch geputzten Schuhen in den Kies rieb. Heute Abend ging er nicht barfuß. Vielleicht wirkte er deshalb so unsicher.
»Es gibt nicht immer ein andermal.«
Etwas Ähnliches hatte ich schon früher gehört, nicht wahr, und mein gesamter Kopf fühlte sich plötzlich unwohl, und es lief mir kalt den Rücken hinunter.
»Was meinst du damit?«
Iver Malt erwiderte meinen Blick. Plötzlich erkannte ich ihn nicht wieder. Sein Gesicht war nicht mehr hart und ängstlich, stattdessen drückte es eine Art Ruhe aus, eine große Ruhe, als hätte er endlich seinen Frieden gefunden, womit auch immer, vielleicht mit sich selbst, und das war schlimmer als alles andere.
»Was ich damit meine? Dass du mich noch nie wütend gesehen hast.«
Iver Malt schob die Hände in die Tasche und schlenderte hinunter zum Anleger, während er irgendeine Melodie pfiff, die ich wiedererkannte, aber so schnell kam ich nicht auf den Namen, und es irritierte mich ungemein, dass ich nicht auf den Namen kam. Ich blieb stocksteif stehen, bis ich ihn nicht mehr sehen und auch sein Pfeifen nicht mehr hören konnte, das ich aber dennoch nicht los wurde. Es tönte weiter, tief ins Ohr. Dann fiel es mir ein. Reichlich spät. Es war natürlich Blue Skies , Mutters Lied, und jetzt war Iver Malt dabei, es kaputtzumachen, zu stehlen, es schien, als täte er es mit Absicht, sollte ihn doch der Teufel holen. Wann hatte er Mutter Blue Skies singen gehört? Hatte er herumgeschnüffelt, ohne dass wir davon wussten? Sollte der Teufel Iver Malt noch einmal holen. Jetzt war ich ihn jedenfalls los. Als ich mich umdrehte, stand Heidi an der Hollywoodschaukel. Sie wartete nicht im Badehaus auf mich. Sie hatte einen Pullover übergezogen, der ihr fast bis zu den Knien reichte, und in den Armen hielt sie die Katze. Ich schob die Hände in die Taschen und schlenderte zu ihr, aber mein Fuß wollte nicht mitmachen, der wollte woandershin, ich scherte nach rechts aus und musste mich wieder an Ort und Stelle zwingen, um nicht ein paar Kilometer weit das Ziel zu verfehlen.
»Das war’s«, sagte ich.
»Was?«
»Der Barackenbengel.«
»Der Barackenbengel?«
»Iver Malt. Er musste gehen.«
»Hast du ihn nicht reingelassen?«
»Ich? Lisbeth hat ihn nicht reingelassen.«
»Lisbeth? Ich habe nur dich hier gesehen.«
»Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Dass er nicht herkommen soll.«
»Lässt du Lisbeth über dich bestimmen?«
»Niemand bestimmt über mich. Ich habe nur … «
»Ich dachte, Iver ist dein Freund.«
»Mein Freund? Ich kenne ihn doch erst ein paar Wochen. Ich kenne ihn eigentlich gar nicht.«
Heidi sah mich an, während sie die Katze hinterm Ohr kraulte, und ich konnte hören, wie sie schnurrte, das gleiche Geräusch wie das dunkle, elektrische Summen eines Hochspannungsmasts, oder eines Kühlschranks.
»Ihr seid alles Schweinehunde«, sagte sie.
Ich wurde ganz verzweifelt. Ich wurde so verzweifelt und wütend, wütend auf Iver, auf Lisbeth, auf Heidi, auf den Mond und die Astronauten und auf mich. Ich streichelte die Katze. Nicht einmal die war auf meiner Seite. Ich hätte es besser wissen müssen. Sie langte mit einer Kralle aus, die mir zwei rote Streifen auf dem Handrücken verpasste. Heidi tat nichts. Ich zog die Hand zurück und ließ das Blut tropfen.
»Wollen wir wieder runter zum Badeschuppen gehen?«, fragte ich.
»Ich denke nicht, Chris.«
»Nein? Ich habe dir noch nicht das Gedicht vorgelesen.«
»Ein andermal vielleicht.«
Wie gesagt, dieser Sommer war nichts anderes als das Echo von Worten, die mir in den Mund gelegt wurden.
»Es gibt nicht immer ein andermal«, sagte ich.
»Dann nicht.«
»Dann nicht?«
»Ich finde, du solltest lieber deinem Freund hinterherlaufen.«
Heidi ließ die Katze vorsichtig ins Gras hinunter. Warf sie mich hinaus? Machte sie Schluss, bevor wir überhaupt angefangen hatten? Ich blieb unschlüssig stehen und leckte mir das Blut von der Hand. Hing alles so zusammen, dass du, wenn du jemanden im Stich lässt, früher oder später selbst im Stich gelassen wirst? Ich verfluchte den verdammten Tag, an dem Mutter mich gebeten hatte, Iver Malt zu grüßen, diesen barfüßigen, wortblinden und aufdringlichen Barackenbengel.
»Ich
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