Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
streichen.«
»Wann kommen die Tanten?«
Mutter seufzte.
»Viel zu bald.«
Sie legte die Hand auf den Mund, kaum hatten die Worte ihn verlassen.
»Das war nicht nett von mir«, sagte sie.
Dann blätterte sie weiter in der Zeitung, auf deren Titelseite sich ein Foto der drei Astronauten befand. Glaubt jemand tatsächlich, dass ich mich daran erinnere, was da stand? Dass ich mich erinnern könnte, was in einer Zeitung vor mehr als vierzig Jahren gestanden hat? Ich meine, wer kann denn so etwas schon erinnern? Ich. Dort stand, dass Neil Armstrong am 28. Januar 1956 Janet Sharet geheiratet hat, und an ihrem Hochzeitstag, am 28. Januar 1962, verloren sie ihre Tochter Karen. Wollte Neil Armstrong deshalb auf den Mond? Ich bekam diesen Gedanken nicht wieder aus dem Kopf. Alles klebt sich fest. Es gibt zu viel Inhalt auf der Welt. Ganz gleich, ob Müll oder Gold, es klebt sich so verdammt fest. Man nehme nur so eine Zeitung, Daten, Tabellen, Rekorde, Temperaturen, Todesanzeigen, Fahrpläne und Zahlen über Zahlen, Buchstaben über Buchstaben. Früher prahlte ich damit, dass ich schreibe, um nicht zu vergessen. Jetzt behaupte ich das Gegenteil. Ich schreibe nicht mehr, um zu erinnern, sondern um zu vergessen. Sobald etwas aufgeschrieben ist, kann ich es vergessen. Deshalb vergesse ich diesen Sommer jetzt, Wort für Wort. Die Luft war an diesem Morgen noch kühl, am 25. Juni 1969. Daran erinnere ich mich. Jetzt kann ich es also vergessen. Ich vergesse die tote Tochter des Astronauten. Inzwischen hatten die Hummeln im Rhododendron Grand Hotel sauber gemacht. Das Gras glänzte. Eine Ameise krabbelte mir über die Hand. Ein Frachtschiff teilte den Fjord genau in der Mitte, denn ich konnte sehen, dass die Wellen beide Ufer genau gleichzeitig erreichten. Jetzt kann ich all das auch vergessen. Mutter legte die Zeitung hin und blätterte in ihrem kleinen gelben Notizbuch.
»Am liebsten wäre mir, wenn du keinen weiteren Kontakt mit ihm hättest«, sagte sie.
»Mit wem? Vater?«
Ich fand das eigentlich ziemlich lustig und lachte.
»Du weißt, wen ich meine. Er ist nicht gut.«
»Nicht gut? Glaubst du all diesen Gerüchten?«
»Die interessieren mich nicht. Ich weiß nur, dass er nicht gut ist.«
»Aber du warst es doch, du hast mich aufgefordert, diesen Trottel zu grüßen.«
»Das ist ganz was anderes.«
»Wieso?«
»Man grüßt aus Höflichkeit. Und du sollst ihn nicht Trottel nennen. Es ist ja nicht seine Schuld.«
Den Rest des Tages saß ich an der Schreibmaschine, aber ich war zu unruhig und kam mit dem Gedicht über den Mond nicht weiter. Ich saß nur da, die Hände im Schoß, und wartete auf eine Inspiration. Sie zeigte sich nicht. Es dauerte und dauerte. Sie zeigte sich immer noch nicht. Eine Krähe landete auf der abgeblätterten Fahnenstange. Wurde mir die Inspiration in Form eines lächerlichen, kreischenden Vogels geschickt? Und wenn ja, wer hatte sie mir dann geschickt? Ich hatte keine Ahnung. Aber es nützte alles nichts, weder die Krähe noch das Warten. Dennoch fühlte ich mich aus irgendeinem Grund wichtig. Ich saß da, tat nichts und war wichtig. Das gefiel mir. Ich gehörte zu den Auserwählten. Ich musste leiden. Es würde etwas kosten. Es würde etwas kosten, koste es, was es wolle. Mutter sagte das immer. Koste es, was es wolle. Ich litt auf meine Art und Weise. Ich genoss es. Aber nach einer Weile wurde die Stille anstrengend. Ich wurde auf mich selbst aufmerksam. Ich bemerkte das Blut, das unter der Haut floss, und die Haut, die sich um den Körper spannte. Ich bemerkte mein Herz, das schlug, und die Finger, die bei jedem einzelnen Schlag leicht zitterten. Mein Herz war eine Schreibmaschine! Ich bemerkte meine blassen Knie und die Scharten in meinem Kopf, die diese Stille, die nur vom Tastenanschlag des Herzens unterbrochen wurde, in die Schlucht hinausschrie. Ich wollte nicht auf mich selbst aufmerksam werden. Ich wollte in die andere Richtung, weg, so weit wie möglich weg von mir selbst. Eine Krähe ist kein Schwarm. Zwölf Stufen sind eine Treppe. Noch vier dazu sind anderthalb Gedichte. Noch fünfundzwanzig Tage bis zum Mond.
4
A m nächsten Morgen stand Iver Malt wieder an der Pforte, die Aftenposten in der Hand. Mutter war in der Küche und machte Frühstück. Ich saß auf der Terrasse und sah ihn. Er blieb einfach stehen. Ganz sicher hatte er mich auch gesehen, was mir unangenehm war. Am liebsten wäre ich hineingegangen und hätte die Tür fest hinter mir zugezogen, aber das tat ich
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