Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
ergreifend gar nicht darum scherte? War das denn nicht möglich? Doch, es war möglich. Einen Moment lang wurde ich von großer Ruhe erfüllt, von einem Gleichgewicht, das der reinen Freude ähnelte. Aber ebenso schnell war ich wieder missmutig. Es würde nicht mehr als eine Herauszögerung bedeuten, und das nächste Mal würde noch schlimmer werden, denn man kann eine Verabredung nicht zweimal sausen lassen. Ich konnte mich ebenso gut am Rettungsseil erhängen oder in den Schuppen gehen, der Wand an Wand mit dem Plumpsklo stand, Entschuldigung Mutter, mit dem Abtritt, und das Fahrrad herausholen, das seit letztem Jahr dort stand. Fahrradfahren in der Stadt war nämlich nichts für mich. Gehen gefiel mir besser, auch wenn es länger dauerte, doch das war ja gerade der Witz dabei. So bekam ich meine Gedanken in den Griff. Bekam sie geordnet. Ich ging im Takt mit ihnen, oder sie wurden gedacht im Takt mit meinen kurzen, fast seitlichen Schritten. Oft kam ich zu spät. Ich blieb stehen, wenn ein Traum es erforderte, was sich nicht machen ließ, wenn ich mit dem Rad fuhr. Außerdem war ich eine Gefahr für mich selbst und meine Umgebung. So konnte ich beispielsweise den Bondebakken hinunterrollen, und plötzlich befand ich mich auf dem Olav Kyrres plass, und bevor ich noch wusste, wie mir geschah, war ich in Skillebekk. Und in der Zwischenzeit, wo war ich da gewesen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Ich wusste es nicht. Ich war fort gewesen, in meiner eigenen Welt. In ihr konnte ich schreiben, singen und träumen, aber nicht Rad fahren. In der Stadt Rad zu fahren, das war mit meiner Natur, mit meinem innersten Wesen nicht zu vereinbaren. Aber hier draußen auf dem Lande, da nutzte ich die Chance.
    Der schönste Ausdruck, den ich kannte, das war: in allerschönster Ordnung . Alles ist in allerschönster Ordnung. Kann es noch besser werden? Nein. Aber jetzt war nichts in allerschönster Ordnung.
    Das Fahrrad stand in der Ecke hinter einem ganzen Waffenarsenal mit Harken und Rechen und Rosenscheren, mit denen sich meine blutrünstigen Tanten zu bewaffnen pflegten, wenn sie in den Krieg zogen gegen Unkraut, Brennnessel, verrottete Äpfel und Pilze. Ich werde bald darauf zu sprechen kommen, keine Sorge. Ansonsten waren die Urlauber im Grunde genommen eine ziemlich friedliche Truppe, die sich freiwillig zurückzog, wenn auch mit einer gewissen Trauer, sie zogen sich zurück, wenn die Tage im August gezählt waren, und überließen das Gebiet von Nesodden dann wieder den Einheimischen. Übrigens handelte es sich bei dem Fahrrad um eins von Diamant mit drei Gängen, Licht und Zahlenschloss. Ich hatte es von Vater bekommen, als ich mit dieser hoffnungslosen Realschule anfing. Architekten fahren nicht mit dem Rad, hatte er lachend gesagt. Das Licht, das durch die Spalten in der Wand hereinsickerte, ließ die Speichen wie Spinnweben aussehen. Alles sah in diesem Sommer aus wie Spinnweben. Ich zog das Fahrrad heraus, doch als ich versuchte, das Zahlenschloss zu öffnen, funktionierte es nicht. Ich versuchte es noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. Ich kann heute noch den Druck in der Handfläche spüren, wenn die schnellen Bewegungen mit einem Ruck belohnt wurden und Fahrrad wie auch ich freikamen. Aber dieses Mal nicht. Jetzt stand es unerschütterlich verschlossen da. Ich hatte mich unmöglich in dem Zahlencode irren können, denn der war ganz raffiniert: meine Körpergröße. Damit kann man nicht prahlen, aber schlecht war er nicht, dieser Code, zumindest bis jetzt. Schließlich mochte ich nicht mehr. Äußerst unzufrieden warf ich den ganzen Krempel hinter einen Baum, versteckte mich im Apfelbaumgarten und war so wütend, dass ich mindestens eine Viertelstunde dastehen und auf einen grünen Apfel schnaufen musste, anschließend schluckte ich acht unterentwickelte Stachelbeeren, die schlimmer schmeckten als ein Staubfussel mit Stacheldraht. So wütend war ich. Selbst mein Fuß, der rechte, war wütend. Ich hatte keine Ahnung, woher diese Wut kam, denn auch wenn das mit dem Zahlenschloss ärgerlich war, so war es nicht besonders gesund, auf unschuldige Früchte wütend zu werden, die noch nicht einmal reif waren. So viel war selbst mir schon klar.
    Mutter pfiff.
    Es war vorbei. Und als es endlich vorbei war und ich zur Ruhe kommen konnte, erschöpft und erledigt, schien es mir, als würde ich alles deutlicher sehen und hören, die Welt rückte näher und umschloss mich, und sie wurde zu meiner Welt, die mich wiederum

Weitere Kostenlose Bücher