Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
nur darauf. Mein Bruder wäre ja am liebsten im Erdboden versunken!
Manni lachte darüber. Ich glaube, er wusste ganz genau, dass das, was sich in meiner Vorstellung abspielte, nicht weniger schrecklich war als die Wirklichkeit. Es war die reinste Folter. Auch das genoss er.
Ich tat worum Jan mich bat, weil ich dachte, dass ich ihm damit wenigstens ein bisschen half. Auch in dieser Nacht drehte ich den Hahn auf. Es dauerte lange, bis ich es schaffte mich auszublenden – bis ich Jans Schreie hörte.
„Lass das!“, schrie er. „Es tut zu weh! Es! Tut! Zu! Weh!“
Ein Grunzen: „Halt die Klappe.“ Ein Keuchen. „Stillhalten.“
„Hör auf! Manni, hör …“
„Scheiße, verdammtes Rabenaas, du!“
Jan, flehend: „Manni.“
Da … da war plötzlich nicht länger Jans Stimme, sondern ein komisches Gurgeln.
Ein Plätschern.
Es plätscherte. Und plätscherte. Und dann – nichts mehr.
Diese Stille schmerzt mir noch in den Ohren.
Bis dahin hatte ich das Gesicht abgewandt. Nun schaute ich widerstrebend zur Wanne. Und es war, als wenn mir eine eiskalte Hand das Herz zerquetschte.
Der Junge in der Wanne hatte die gleiche Haarfarbe wie mein Bruder, das gleiche Gesicht. Er hatte den gleichen mageren Körper, die gleiche weiße Haut. Aber ich erkannte nicht, dass es mein Bruder war.
Ich fragte mich: Wer ist dieser Junge in unserer Wanne? Ich wollte die Hände nach ihm ausstrecken, ihn berühren, prüfen, ob er eine Einbildung war.“
Sie rieb sich die Augen, wie um das Bild zu vertreiben, bevor sie unvermittelt an Nick schmiegte. So eng, dass es keinen Raum für was anderes gab.
„Der Körper meines Bruders schwebte im Wasser.“ Linas heisere Flüsterstimme. „Jans dichtes, feines Haar stand wie ein fedriger Heiligenschein um seinen Kopf. Wirklich wahr. Seine geöffneten Lippen waren fast vom gleichen Grau wie seine Augen, die blicklos durch das Badewasser zu mir starrten.
Wasser. Alles war voll Wasser.
Der nackte Manni patschte durch die Pfützen zu mir. „Sieh hin“, zischte er, packte mein Haar und riss es mir dabei aus. Blut sickerte aus vier Kratzern auf seiner beharrten Brust. Dunkle Schlieren schmierten bis zu seinem Wanst. „Sieh ihn dir ganz genau an, du Miststück.“ Er zwang mich zu Jan zu schauen. „Das Gleiche wird dir passieren.“
Und ich sah ihn ganz genau an.
Schaute dem Tod ins Gesicht.
Ich wollte schreien, aber es ging nicht. Ich wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Ich wollte weglaufen, aber ich konnte mich nicht rühren. Während ich wie festgefroren dastand, lief heißer Urin an meinen Beinen herunter. Manni bemerkte es und sagte, ich wäre seine kleine Sau.“ Bei den folgenden Worten sprach sie noch leiser. „Mein Leben hatte im Laufe der Jahre viele Risse bekommen. Richtig schlimme und hässliche. Aber in dieser einen Nacht war es völlig kaputtgegangen. Und Manni trampelte auf den Trümmerteilen herum.
„Mach schon“, befahl er dem Scherbenmädchen, zu dem ich geworden war. „Bring die Schweinerei in Ordnung. Beeil dich. Wir machen einen Ausflug in den Schrebergarten. Es wird Zeit, die Erdbeerpflanzen zu setzen.“ Er ging an mir vorbei ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Endlich war er weg.
…
War weg.
…
Ist weg.
…
Weg.
Ich. Bin. Allein.“
Lina machte sich los, bewegte lautlos die Lippen. Dann, urplötzlich, mit schriller Stimme: „Jan ist so furchtbar still! Vielleicht ist er nur ohnmächtig … ich versuche ihn aufzurütteln. Ich rüttele. Ich rüttele an seiner Schulter, rüttele. – Steh auf, Jan. Steh auf! Lass uns abhauen! Komm schon, komm!“
Nick sträubten sich die Haare.
„Neinneinnein! Er ist nicht ohnmächtig. Er ist tot. Tot! Ertrunken. Tot. ERTRUNKEN. TOT. JAN IST TOT. JAN IST ERTRUNKEN. TOT, TOT, TOT!“
Nick schrie ebenfalls, und jetzt war er es, der an Linas Schulter rüttelte. „Hör auf damit! Hör auf. Es ist nicht deine Schuld. Verstehst du? Du konntest nichts tun. Gar nichts! Manni ist viel stärker als du. Er hätte dich auch getötet, begreifst du das? Einfach kaltgemacht!“
Lina. Wie aus einer anderen Welt. „Lisel sto ullv Sirwes. Alles ist voll Wasser. Alles voll. Jans Kopf schwebt. Seine Lippen sind grau. Grau.“
„Lina, komm her zu mir, komm. Bleib hier. Halt still. Pscht, Lina, pscht. Es tut mir leid. Es tut mir so entsetzlich leid.“
„Grau.“
Nick, krank vor Anteilnahme, hielt sie weiter umfangen. Er sagte kein Wort um die eingetretene Totenstille zu füllen, weil ihm nicht ein gescheites
Weitere Kostenlose Bücher