Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
Übergriffe. Gegen die Prügel von Mama und die Sauereien von Manni, der ihn zwang, wieder und wieder diesen kranken Dreck zu erdulden. Und trotzdem hat mein Bruder mich beschützt. Auf die einzige Art, die ihm zur Verfügung stand.
Jans Gestalt schien täglich zu schrumpfen, als sollte möglichst wenig von ihm da sein, dem man wehtun könnte. Es war, als würde er kleiner und blasser, durchsichtiger und geisterhafter. Eine Elendsgestalt, die langsam zu verschwinden schien. Bis er tatsächlich weg war. Und ich, ich habe nichts dagegen getan. Gar nichts.“
Hinter Nicks Kehlkopf brannte es wieder. Es fühlte sich absolut scheußlich an, diese widerlichen Ausführungen in Worten über sich ergehen zu lassen. Ein Teil von ihm wollte sich herumwerfen und fortlaufen, damit er sich das nicht länger anhören musste. Aber der andere Teil, der Lina helfen und ihr beistehen wollte, der sie gern hatte, von Herzen gern, der war stärker.
Also blieb Nick. Er hielt Linas Hände und drückte sie leicht – ein körperlicher Beistand und gleichzeitig eine Aufforderung weiterzumachen.
Und sie machte weiter.
„Esd ongg lengrijeh us … das ging jahrelang so. Manni hat gesagt, dass wir es niemandem erzählen dürfen, es sei eine Sache zwischen Jan, mir und ihm. Und dass wir uns lieber nicht das Maul verbrennen sollen.“
Sie schilderte Nick eine irrsinnige Szene im Wald, in der Jan und sie mit Brennnesseln gequält worden waren. Gepeinigt war das altmodische Wort, das ihm dazu einfiel. Gepeinigt. Und es klang, als ob Lina die Szene in einem Psychothriller gesehen hätte und sie jetzt für ihre eigene Erinnerung hielte.
Er konnte das kaum glauben. Oder wollte er es nicht wahrhaben? War er wie die meisten Erwachsenen, die nur glaubten, was sie glauben wollten? Nämlich, dass es keine Monster gab?
Nein, ganz sicher nicht! Mit einem weiteren Händedruck versuchte er Lina seine Empfindungen zu vermitteln: Wut. Trauer. Verzweiflung. Solidarität. Zuneigung. Und eine Hilflosigkeit, die er nicht hätte beschreiben können, so abgrundtief war sie.
„Manni eth miontgi“, fuhr sie fort, „Manni hat gemeint, dass uns eh niemand glauben würde.
Er behielt recht.
Wir haben es einige Male probiert. Worauf meine Mutter Jan und mich verdroschen hat. Sie hat gesagt, wir sollten uns schämen. Wir dürften keinen solchen Unsinn über Manni erzählen, sonst kämen wir ins Heim. Getrennt. Jeder in ein anderes. Manni wäre lieb, nett und fürsorglich. So gut wie mit ihm wäre es uns noch nie gegangen. Auch mit dem Geld.“ Unbehaglich zog sie die Schultern hoch. „Jan konnte es aber nicht aushalten zu schweigen. Er musste darüber reden, verstehst du? Es aus sich rauskriegen. Irgendwie. Also hat er geredet. Mit mir.“
Über ihre Züge flog ein schattenhafter Hauch von Genugtuung. „Damals haben wir unser eigenes Geheimnis gehabt, Jan und ich. Er dachte sich diese Sprache aus. Damit konnten wir sicher sein, dass Manni nichts verstand, dass er gar nicht kapierte, worüber Jan sprach. Mit den Jahren wurden wir stetig besser.
Einmal hat Jan mir anvertraut, dass es dauernd in seinem Bauch wehtut. In seiner Mitte. „Du kannst es nicht sehen“, waren seine Worte gewesen. „Es ist innen drin. Ganz, ganz tief in meinem Bauch.“
Es stimmte. Sehen konnte ich es nicht. Aber fühlen. Es tat mir körperlich weh. Ich empfand all den Schmerz meines Bruders, als ob ich mit in seinem Körper stecken würde. All seinen Ekel, seine Abscheu.
Es war brutal. Auch, weil ich ihn im Stich ließ! Ich fühlte mich dreckig. Schmierig. Klebrig. Ich stank nach Manni! Als hätte ich mich an ihm infiziert. Ich bin oft unter die Dusche gegangen, um es loszuwerden. Wie mein Bruder. Aber man wird es nicht los. Nichts davon.“
Sie zwinkerte mit den Lidern, als wollte sie Tränen zurückblinzeln. „Allmählich wurden wir älter. Und dann, dann kam die Nacht, in der Jan sich wehrte.
Es war so, dass ich immer mit ins Bad musste, wenn Manni mit Jan …“ Sie ließ den Satz unvollendet, sprang übergangslos zum nächsten über. „Er hatte mich lieber im Blick. Es gefiel ihm, dass ich litt und Jan sich in Grund und Boden schämte. Es gefiel ihm richtig gut. War wohl ein zusätzlicher Kick.“ Lina knetete wieder ihre Finger, dass die Knochen knackten.
„Wie üblich verlangte Jan, dass ich mich wegdrehen sollte, dass ich nicht hinschauen, nicht hinhören sollte. Er bettelte geradezu darum. Den Wasserhahn sollte ich aufdrehen, mich auf das Rauschen konzentrieren und
Weitere Kostenlose Bücher