Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
erkannte ich hinter ihm Nick.
Und auch wieder nicht. Nick sah gar nicht aus wie Nick, er sah aus wie jemand, der sein Herz mit den eigenen Händen umklammert.
Aber es war bloß Marions Gitarre, die sonst auf meinem Sideboard lag. Sie war völlig zertrümmert. Mit feuchtem Rot beschmiert.
Nick schien zu Tode erschrocken.
Ich glaube, er begriff nicht wirklich, was er getan hatte. Oder wie oft er zugeschlagen hatte. Ich weiß es auch nicht.
Seine Hände bluteten da, wo die Stahlsaiten ins Fleisch geschnitten hatten. Auch das bemerkte er nicht. Nick war völlig weggetreten. Er stand vor mir wie geblendet, stand vor mir und wusste nicht, was Sekunden zuvor geschehen war, wusste nicht, wo er war, wusste nicht mal, wer er ist.
Ich kenne das.
Nick war wie ein Abbild von mir in jener Nacht, in der du gestorben bist, Jan.
Ich kroch unter Manni hervor. Kam mühsam hoch, legte meine Stirn gegen Nicks, krächzte, dass ich ihn unglaublich gern habe und alles wieder besser wird, besser werden muss.
Ich wiederholte das mehrmals hintereinander in unserer Sprache.
Wie ein Gebet.
Da war seine Umarmung. Sie zu spüren, darin zu versinken und zu wissen, wir sind nicht allein, war das einzig Erträgliche in diesem Moment.
Wir umschlangen einander so fest, als könnten wir uns gegenseitig durch unsere Haut, unsere Muskeln und Sehnen, unser Fleisch und unsere Knochen hindurch tief in unsere Seelen ziehen und uns dort einschließen. In das Kämmerchen, wo wir alles Kostbare, alles Schöne und die, die wir lieben, bewahren. In Sicherheit. Und Geborgenheit. So standen wir noch, als sie zu uns kamen.
Marion und Thomas. Uniformierte Polizisten, die aus zuckendem blauem Licht ins Haus traten wie Aliens bei der Landung einer Untertasse. Menschen in weißen Overalls. Doktor Schilling, Hauptkommissar Schweigert und all die Leute, die plötzlich das Haus überfluteten.
„Die Gitarre“, hat Nick gestammelt. Und: „Das … das Ding ist kaputt. Ich bin es gewesen. Ich allein.“
Notwehr, haben sie erklärt und uns Spritzen gegeben. Erweiterte Selbstverteidigung. Schockzustand. Dass es wieder in Ordnung kommt.
Das glaube ich auch, Bruder. Es wird in Ordnung kommen, soweit es eben in Ordnung kommen kann. So weit, dass es auszuhalten ist. Dass man es manchmal sogar komplett vergisst.
Die Momente des Vergessens werden länger werden. Immer länger. Bis sie leuchtend im Vordergrund stehen und diese Erinnerungen in ihren mächtigen Schatten stellen. Und wir, wir müssen nicht in diese Schatten gehen, müssen nicht mal hinschauen.
Die Sterne. Sie verblassen. Wie sieht der Himmel aus, da wo du jetzt bist, Jan? Sind die Sterne über dir? Oder läufst du darauf herum?
Da! Hörst du, wie Nicks Gitarre nach mir ruft? Ich werde rübergehen. Ich werde mich neben ihn legen, ihn in meinen Armen wiegen bis wir eingeschlafen sind. So wie ich es früher bei dir gemacht habe, Bruder.
Schlaf gut, Jan Sternenkind.
Lefsch atg.
Über die Autorin
Sabine Ludwigs, 1964 in Dortmund geboren, begann 2004 zu schreiben. Zunächst widmete sie sich sehr erfolgreich dem Verfassen von Kurzgeschichten, die bereits von einigen bekannten Schauspielern wie Anita Kupsch, Marie-Luise Marjan oder Ludger Burmann für öffentliche Vorträge ausgewählt wurden. Seit 2009 verfertigt sie auch Romane.
Ihre Werke sind in Print-, Hör- und Onlinemedien sowie als E-Book veröffentlicht, ein Teil ist zudem Unterrichtsmaterial für das Fach Religion/Ethik an weiterführenden Schulen.
Sie wurde mit dem Friedens-Literaturpreis des Berliner Kulturring und mit dem Literaturpreis Gedichte & Balladen der Ideale Stiftung ausgezeichnet.
Neben der Schriftstellerei war sie jahrelang für einen Verlag als Lektorin und zuletzt als Pressesprecherin tätig. Heute ist sie noch immer als Lektorin aktiv. Daneben gehört sie der Autorinnengruppe Bloody Marys an, deren Gründungsmitglied sie ist.
Sabine Ludwigs ist Freiberuflerin und lebt mit ihrer Familie in Lünen an der Lippe.
Weitere Kostenlose Bücher