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Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Titel: Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Ludwigs
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ganze Welt hielt an. Und verharrte eine Weile. Ihm war, als hinge alles und jeder, selbst die Vögel über ihren Köpfen, in einem Vakuum.
    Das ferne Dröhnen zweier Flugzeuge brach den Bann. Wie auf ein lautloses Kommando schauten Nick und Lina hinauf zu dem weißen X.
    „Das glaube ich nicht“, brachte Nick schließlich heraus. „Oin mo Binli! Nie im Leben!“
    „Biglea si.“ Glaube es.
    Die Wörter kamen aus ihr heraus, krochen auf Nick zu und überwucherten ihn wie giftiger Efeu. Nun hatte er regelrecht Panik, mit ihr zu reden.
    Er begann zu ahnen, dass es Momente im Leben gab, in denen jedes Wort ein falsches Wort war. Dies war so ein Augenblick. Lieber wollte er nichts mehr sagen. Nichts mehr fragen. Nichts mehr wissen. Nichts!
    Das Kondens-X im Himmelsblau hatte sich bereits aufgelöst, als ihm bewusst wurde, dass er doch noch etwas stammelte, ja, um etwas flehte: „Lina, das ist nicht wahr – esd sto ochtn ehrw.“
    „Uchd, esd sto si. Cho bihe Jan lochwork bingrevir.“
    Doch, das ist es. Ich habe Jan wirklich vergraben.
    „Das ist nicht wahr“, wiederholte er noch einmal. „Esd sto ochtn ehrw.“
    „Cho gilä ochtn.“ Ich lüge nicht.
    Nein. Nein, das konnte er sich auch nicht vorstellen. Er hob die Schultern, ließ sie wieder fallen, als Ausdruck seiner Ratlosigkeit.
    Lina knetete ununterbrochen ihre Hände, manchmal derart heftig, dass Nick die Fingerknöchel knacken hörte. Er versuchte, sich selbst zu beruhigen: Bleib cool. Bleib ruhig. Dreh nicht ab … Lina ist ein bisschen durch den Wind, okay – aber sie könnte genauso wenig einem Menschen was antun wie du.
    Gleichzeitig war ihm klar, dass es im Leben Situationen geben mochte, in denen ein Mensch einfach alles tat, wirklich alles. Weil er gar nicht anders konnte, ihm keine andere Wahl blieb, kein Ausweg.
    „Lina … du … wie …“, stotterte Nick. Er biss sich auf die Zunge, danach klappte es besser. „Cho histivir ochtn. Esw sto soirtpes? Zöhlir si orm. Tibot.“ Ich verstehe nicht. Was ist passiert? Erzähl es mir. Bitte. Er sagte es eindringlich, jedoch ohne sie zu bedrängen.
    Lina blickte an Nick vorbei, scheinbar auf einen Punkt hinter seiner Schulter, der ganz nah und gleichzeitig unglaublich fern zu sein schien. – Sie schaute in ihre Vergangenheit. Blieb aber weiter stumm.
    Nick öffnete schon den Mund, um Lina erneut zum Sprechen zu bewegen. Doch da legte sie einen eisigen Finger auf seine Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Und dann erzählte sie Nick Dinge, die schrecklicher waren als alles, was ihm je ein Mensch anvertraut hatte.
    Ihre Miene verfinsterte sich. Sie redete leise und langsam in ihrer Sprache, sodass ihm genug Zeit blieb, die verschlüsselten Worte zu entwirren und zu einem Albtraum zusammenzusetzen.
    „Siran Tirve loißvir risian Tirmat …“, begann Lina ihre Gesichte zu erzählen. „Unser Vater verließ unsere Mutter, da waren Jan und ich drei Jahre alt. Er ging zurück in seine Heimat, nach Russland. Wir haben nie wieder von ihm gehört.
    Also hat unsere Mutter die Dorfkneipe, die sie zusammen gepachtet hatten, allein weitergeführt. Das macht sie heute noch. Die „Klause“, so heißt die Kneipe, liegt direkt neben unserer Wohnung. Schon damals waren Jan und ich uns meistens selbst überlassen.
    Tagsüber war unsere Mutter müde, ab dem Abend ging sie arbeiten. Oft kam sie angetrunken heim, aber das Geld brachte uns einigermaßen über die Runden. Und Wirtin zu sein, gefiel ihr richtig gut.
    Auf jeden Fall lernte sie in der „Klause“ Manni näher kennen, einen der Stammgäste. Der zog eines Tages bei uns ein und benahm sich, als wären wir seine Familie.“
    „Dein Stiefvater also?“
    „Ja, unser Stiefvater. Und jeder, von den Nachbarn bis zu unseren Großeltern, alle fanden, wie nett der neue Papa war. Wie glücklich wir Kinder sein sollten, dass er uns liebte und sich um uns kümmerte, dass wir dankbar sein mussten. In einem fort bekamen wir das aufs Brot geschmiert! Und sie meinten wirklich, was sie sagten.“ Lina schnaubte. „Sie leben in einer Welt, in der man am liebsten glaubt, was man sieht, in der es nicht gibt, was es nicht geben darf.
    Eine Welt, in der man Kindern erzählt, dass Monster Fantasiegestalten sind. – Aber das stimmt nicht“, flüsterte Lina in ihrer Idioglossie. „Das stimmt nicht. Es gibt sie. Richtige Monster meine ich. Und eines lebte in unserer Wohnung und arbeitete tagsüber in einer Gärtnerei.“
    Sie weinte so heftig, dass Nick sie kaum verstehen

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