Der Sommerfaenger
ihr den Wunsch. Das hier konnte eine Geschichte für Imke Thalheim sein. Von solchen Begegnungen lebten ihre Bücher.
»Wie heißt du?«, fragte er das Mädchen.
»Geht dich’n Scheißdreck an«, entgegnete sie knapp und ließ ihn stehen.
Stimmt, dachte Luke und schoss zwei Fotos von ihr, auf denen sie ihm mit hochgerecktem Arm über die Schulter den Stinkefinger zeigte.
Er bezahlte seinen Milchkaffee und zog wieder los. Er war froh über das Gedränge hier unten. Zwischen all den Leuten und inmitten der nervösen Hektik der Reisenden wurde er so gut wie unsichtbar. Er konnte unbehelligt umherlaufen, weitere Eindrücke sammeln und nachdenken, bis er wusste, was er zu tun hatte.
*
Mücken tanzten in der Luft. Das alte Gemäuer strahlte die gespeicherte Hitze des Tages aus. Die beiden Hunde lagen schlapp im Schatten der Kastanie, die einen großen Teil des gepflasterten Hofs mit ihren starken Ästen überspannte.
Kristof mochte die Tiere nicht. Er hasste die schmalen Schnauzen und spitzen Ohren der Dobermänner, die kräftigen Muskeln unter ihrem glatten schwarzen Fell, vor allem jedoch den immer hungrigen Blick ihrer Augen.
Sie waren scharf abgerichtet. Obwohl ihn rund um die Uhr zwei Bodyguards begleitet hatten, jedes Gebäude, jeder Raum des Gutshofs videoüberwacht und mit Alarmanlage ausgestattet war und das zehn Hektar große Anwesen von einem unüberwindbaren Elektrozaun eingefasst wurde, hatte Kristofs Vater sich ohne seine Hunde hier nicht sicher gefühlt. Er war der Pate , der Chef der Organisation , und es gab unzählige Neider, die nur darauf warteten, ihn vom Thron zu stürzen, um selbst die Macht an sich zu reißen.
Und dann war er tatsächlich gestürzt. Aber nicht so, wie man es hätte erwarten können. Nicht in einem spektakulären Kampf, durch einen feigen Anschlag, einen gemeinen Mord oder eine feindliche Übernahme. Nein.
Leo Machelett war über einen miesen kleinen Verräter gestolpert.
Alexej.
Kristof hatte den Namen ewig nicht mehr ausgesprochen, doch nun würde er es wieder lernen müssen. Seine Lippen kräuselten sich vor Abscheu. Sein Herzschlag raste. Sein Atem ging in schnellen Stößen.
Wie er diesen Namen hasste!
Alexej. Oder Alex, wie er ihn meistens genannt hatte.
Leo Machelett war von der Natter verraten worden, die er an seiner Brust genährt hatte, vom Sohn seines ehemaligen Geschäftspartners und besten Freundes.
Alex war zehn Jahre alt gewesen, als seine Eltern bei einem dubiosen Brand ihres Hauses ums Leben gekommen waren. Er selbst war den Flammen nur deshalb nicht zum Opfer gefallen, weil er in der fraglichen Nacht mit Kristof im Garten der Macheletts gezeltet hatte.
Von Sandkastenzeiten an hatte die beiden Jungen eine tiefe Freundschaft verbunden, und es war zwischen den Erwachsenen vereinbarte Sache gewesen, dass man die Kinder nicht trennen würde, sollte eines von ihnen die Eltern verlieren. Nachdem das schreckliche Unglück geschehen war, hatte Leo Machelett deshalb sofort entschieden, dass Alex zusammen mit Kristof aufwachsen sollte.
Alex und Kristof waren ein Herz und eine Seele gewesen. Sie hatten einander sogar ähnlich gesehen. Gleich groß, gleich alt, gleich schwer. Jeder hatte sie für Brüder gehalten. Und so hatten sie sich auch gefühlt.
Wie Zwillingsbrüder.
War der eine angegriffen worden, hatte der andere die Ärmel hochgeschoben und sich an seiner Seite geprügelt. Hatte der eine nachsitzen müssen, hatte der andere neben ihm ausgeharrt. War Alex zum Friedhof gegangen, hatte Kristof am Grab seiner Eltern mit ihm geweint.
Alex.
Niemals war Kristof eifersüchtig gewesen, obwohl er die Liebe seiner Eltern plötzlich hatte teilen müssen. Er hatte die Ordnung der Dinge nie in Frage gestellt. Alex war Teil seines Lebens gewesen.
Bis zuletzt.
Und ausgerechnet Alex hatte Leo Machelett ans Messer geliefert. Hatte plötzlich ein Gewissen entwickelt und war ausgestiegen. Nur dass man aus der Organisation nicht aussteigen konnte. Man verließ sie niemals anders als mit den Füßen voran.
Alex war das Unmögliche gelungen. Er hatte Leo und seine Frau Maria verraten und alle, die in hohen Positionen für sie gearbeitet hatten.
Und war ungestraft untergetaucht.
Die Bullen waren gekommen und hatten sämtliche Beteiligten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion festgenommen. Kristof hatten sie nicht angerührt. Sie behielten ihn im Auge, aber sie buchteten ihn nicht ein.
Ihn hatte Alex nicht belastet.
Dafür hasste Kristof ihn fast noch mehr als für
Weitere Kostenlose Bücher