Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Sommerfaenger

Titel: Der Sommerfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
Vom Netzwerk:
wollte, wollte es glauben. Unbedingt. Er hatte überzeugend rübergebracht, dass es eine Verwechslung gewesen sein musste. Immerhin hatte ihm Jette den Doppelgänger sofort abgekauft. Da konnte es doch vielleicht gut gehen.
    Ein alter Kumpel aus der Schulzeit. War sein Leben lang nicht aus Bautzen rausgekommen und lief ihm nun ausgerechnet in Köln über den Weg. Sie hatten früher nicht viel miteinander zu tun gehabt. Der Typ war ein Streber gewesen, einer von der übelsten Sorte. Hatte den Lehrern die Tasche getragen, die Mitschüler ausspioniert und jeden verpfiffen, der irgendwas auf dem Kerbholz gehabt hatte. Einer wie der hatte keine Freunde. An einem wie dem machte man sich die Hände nicht schmutzig.
    Früher wäre einer wie der als Spitzel bei der Stasi gelandet.
    Luke hatte ihn so komplett aus dem Gedächtnis gestrichen, dass er sich nur mit Mühe an seinen Namen erinnerte.
    Marco irgendwas.
    Sie hatten sich ewig nicht gesehen. Inzwischen hatte Luke sein Äußeres grundlegend verändert. Wie sicher konnte der Typ sein, in ihm seinen alten Schulkameraden Alexej erkannt zu haben?
    Luke trat mit voller Wucht gegen die Küchentür. Krachend fiel sie ins Schloss und er riss sie gereizt wieder auf.
    Es gab keinen Ausweg.
    Aus Köln verschwinden? Jette verlassen? Unmöglich. Er hatte sie so sehnsüchtig gesucht. Jetzt, wo er sie gefunden hatte, konnte er sich nicht mehr vorstellen, ohne sie zu sein.
    Große Worte.
    Etwas in Luke tickte aus.
    Er kippte die Stühle um. Fegte die Dosen vom Teeregal. Zerrte die Decke mitsamt voller Obstschale vom Tisch und beobachtete wutschnaubend, wie die Aprikosen und Kirschen über den von Tee bedeckten Boden kullerten.
    Im nächsten Moment hatte er sich den Wohnungsschlüssel geschnappt und war im Treppenhaus.
    Er musste raus.
    Irgendwohin.
    Klarheit in seine Gedanken bringen.
    In den vergangenen Monaten hatte sein Leben endlich wieder erste Ansätze zaghafter Normalität gezeigt. Ein paar Mal schon war er eine Straße entlanggelaufen, ohne dass er anschließend hätte aufzählen können, wie vielen Menschen er begegnet war. Er war im Begriff gewesen, einen Teil seiner früheren Unbefangenheit wiederzufinden.
    Das hatte schlagartig aufgehört.
    Seine Augen und sein Gehirn scannten jeden, der in sein Blickfeld geriet. Er ordnete die Gesichter, die Körper und die Bewegungen in die Kategorien gefährlich und ungefährlich ein, ebenso wie die Stimmen und alle sonstigen Geräusche.
    Ein Schluchzen stieg in seiner Kehle hoch.
    Alles war zurückgekehrt. Sogar die Angst.
    *
    »Ich dachte, du wärst in Köln«, sagte Frau Stein überrascht. »Oder hab ich irgendwas nicht richtig mitgekriegt?«
    »Bin schon wieder zurück.«
    Mir war wirklich nicht danach, ausgerechnet der Heimleiterin mein Herz auszuschütten.
    »Und statt zu Hause rumzusitzen, habe ich …«
    »Das war Gedankenübertragung.«
    Frau Stein erhob sich stöhnend von ihrem ergonomisch geformten Bürostuhl. Seit ihrem Bandscheibenvorfall hatte sie ständig Rückenschmerzen, mal mehr, mal weniger. Heute schienen sie besonders heftig zu sein.
    »Kannst du nach Frau Sternberg sehen? Sie hat heute keinen guten Tag, und ich kann niemanden entbehren.«
    Ich nickte dankbar und war schon unterwegs.
    Zu Hause hätte ich es nicht ausgehalten. Jeder hätte mich mit Fragen nach Luke gelöchert und dennoch mit nervtötender Behutsamkeit vermieden, mich unter Druck zu setzen.
    Willst du reden?
    Geht’s dir einigermaßen?
    Kann ich irgendwas für dich tun?
    Arbeit war die beste Medizin. Die würde mich ablenken.
    Frau Sternberg lag zusammengekauert auf ihrem Bett. Sie trug ein fliederfarbenes Baumwollnachthemd und darüber eine gehäkelte weiße Bettjacke. Ihre Füße steckten in moosgrünen Wollsocken. Sie hielt den Oberkörper mit den Armen umschlungen, als sei ihr kalt, aber sie hatte sich nicht zugedeckt.
    »Darf ich reinkommen?«
    Sie antwortete nicht. Das war ein ganz schlechtes Zeichen.
    »Hallo, Frau Sternberg. Ich bin’s, Jette.«
    Nichts an ihr ließ erkennen, dass sie meine Anwesenheit wahrgenommen hätte. Ihre Augen waren geschlossen. Als ich mich über sie beugte, sah ich, dass ihre Lider flatterten.
    Ich ging zum Sessel, griff nach der Wolldecke, die über der Lehne hing, faltete sie auseinander und breitete sie über Frau Sternberg aus. Dann zog ich mir einen Stuhl heran und setzte mich zu ihr.
    In der Stille, die uns umgab, konnte ich ihre Atemzüge hören, so leise und schwach, dass man fast meinen konnte, sie sich bloß

Weitere Kostenlose Bücher