Der Sommerfaenger
weiterträumten. Ihre Morgenstimme und ihr Morgenlachen. Und das, was all das mit ihm machte.
Verletzlich fühlte er sich. Und stark.
Und unendlich traurig, weil es nicht dauern durfte.
Im nächsten Moment konnte alles vorbei sein. Und niemand außer ihm wusste es. Keiner hatte auch nur eine Ahnung.
Hungrig kostete er jeden gemeinsamen Augenblick aus.
Ich liebe dich , sagte er ihr ohne Worte.
Sie lächelte.
Ihre Wangen waren gerötet. Schon jetzt deutete sich an, dass dieser Tag Höchsttemperaturen erreichen würde. Die Katzen hatten sich ermattet in den Hof hinausgeschleppt und waren in den tiefsten Schatten gekrochen. Luke beneidete sie um ihren klaren, einfachen Instinkt.
Er wich Jettes Blick aus.
Auf Messers Schneide, dachte er. So leben wir.
Dass sie es nicht wusste, war gut.
*
Auch im St . Marien schlug die Hitzewelle zu. Die meisten Heimbewohner hatten unter Kreislaufproblemen zu leiden. Jeden Tag gab es Zusammenbrüche. Die alten Leute aßen zu wenig, vergaßen das Trinken, und statt im Schatten zu bleiben, setzten sie sich viel zu lange der Sonne aus.
»Als hätten sie sich allesamt vorgenommen, uns zur Verzweiflung zu treiben«, schimpfte Frau Stein, die bei ihrem Übergewicht die hohen Temperaturen als reine Folter empfand.
Es ging drunter und drüber. Frau Sternberg spazierte im Unterrock durch den Park und war schon ein paar Mal von Nachbarn, in deren Garten sie sich am helllichten Tag schlafengelegt hatte, zurückgebracht worden. Auch um den Professor stand es schlimm. Er war in ein tiefes, undurchdringliches Schweigen gesunken, in dem ihn nichts und niemand erreichte. Seit Tagen verweigerte er die Nahrung, und wenn er nicht bald etwas zu sich nahm, würde er in einer Klinik zwangsernährt werden müssen.
Ich pendelte zwischen ihm und Frau Sternberg hin und her, den beiden Menschen, die mir besonders ans Herz gewachsen waren. Zwischendurch ging ich Frau Stein im Büro zur Hand, half in der Küche oder bei der Pflege der übrigen Heimbewohner.
Lukes Stimme noch im Ohr, die Wärme seiner Hände noch auf der Haut, stürzte ich mich voller Elan in die Arbeit. Vielleicht hatten wir einen Anfang gefunden. Den Anfang von etwas so Flüchtigem wie Glück. Und vielleicht würden wir es halten können.
Ich klammerte mich an diese Hoffnung. Gerade jetzt. Denn dieser Sommer legte schmerzhafte Erinnerungen frei.
Auch damals war es so heiß gewesen, dass man sich an den Pflastersteinen die Füße verbrennen konnte. Die Erdbeeren hatten zuckersüß geschmeckt, die Luft war voller Versprechungen gewesen, und Merle, Caro und ich hatten geglaubt, unser Leben würde immer so weitergehen.
Und dann war Caro ermordet worden.
Von einem Tag auf den andern hatte sich alles auf den Kopf gestellt. Der Tod unserer Freundin hatte eine Lücke in unser Leben gerissen. Wir waren nicht mehr unverwundbar gewesen, erst recht nicht unsterblich.
Dennoch hatte ich mich verliebt.
Und Caro im Nachhinein verraten, ohne es zu wissen …
Ich klopfte an die Tür des Professors, aber er antwortete nicht. Also öffnete ich sie vorsichtig und trat ein.
Der Professor saß in seinem Lesesessel und blickte ins Leere.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte ich.
Mit keiner Regung nahm er meine Anwesenheit zur Kenntnis. Er trug schon seit Tagen dieselben Sachen. Sein Kinn und seine Wangen waren von weißen Bartstoppeln bedeckt. Anscheinend hatte er sich nicht gekämmt, denn sein feines weiches Haar, das er sonst mit einem seitlichen Scheitel trug, fiel ihm in die Stirn, was sein Aussehen völlig veränderte.
Seine Brillengläser waren so verschmiert, dass er unmöglich etwas erkennen konnte. Als hätte er meine Gedanken gespürt, nahm er die Brille ab und behielt sie in der Hand, den Blick weiterhin starr geradeaus gerichtet.
Ich setzte mich auf den anderen Sessel und fing an zu reden. Wie von außen hörte ich mich all den aufmunternden Schwachsinn plappern, den die Schwestern in kritischen Situationen so draufhatten. Erschrocken brach ich ab.
In diesem Moment bewegte er sich und schaute mich an.
»Sie sind zu jung für dieses Haus«, sagte er leise.
»Ich bin gern hier«, antwortete ich.
»Hier lauert in allen Ecken der Tod«, sagte er. »Bringen Sie sich in Sicherheit.«
Solche unheimlichen Dinge passierten mir mit dem Professor oft. Gerade hatte ich an meine tote Freundin gedacht, da redete er über den Tod.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte ich.
»Tun Sie etwas für sich selbst«, sagte er
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