Der Sommerfaenger
Stunden bis acht. Wie sollte ich die aushalten?
Luke , sang eine kleine, ungeduldige Stimme in mir.
Immerzu.
Luke . Luke .
Das Lächeln stahl sich wieder auf mein Gesicht und ich summte leise mit.
*
Noch eine letzte Klausur, dann hatte Luke das Semester mehr oder weniger hinter sich. Er hatte in den vergangenen Tagen wie ein Wahnsinniger gearbeitet, hatte sich hinter den Büchern verkrochen, um sein Problem zu verdrängen, statt sich damit auseinanderzusetzen, wie er es hätte tun müssen.
Abends hatte es ihn nach Birkenweiler gezogen und für eine Weile hatte er sich in Jettes Umarmungen sicher gefühlt. Doch während sie schlief, hatte er in die Dunkelheit gestarrt und tief im Innern gewusst, dass er sie verlieren würde.
Es war falsch gewesen, diese Nähe zu suchen. Damit fügte er nicht nur sich selbst, sondern auch Jette Schmerzen zu. Er hatte sich wieder von ihr entfernt.
Drei Tage hatte er sie jetzt nicht mehr gesehen, und ihm wurde schlecht, wenn er sich ein ganzes Leben ohne sie vorzustellen versuchte.
Er war nicht bereit dazu.
Er wollte keine neue Identität, keinen neuen Namen, keine neue Daten, kein neues Bundesland, keine neue Stadt und keine neuen Menschen. Vielleicht würde die Polizei ihm sogar raten, sich ins Ausland abzusetzen.
Und wenn er Jette einweihte?
Gegen die Regeln und alle Vernunft?
Wenn er sie mitnahm in ein neues Leben?
Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, als ihm auch schon klar wurde, wie unsinnig er war. Jette würde nur mit ihm gehen können, wenn sie selbst eine neue Identität annahm und jeden Kontakt zu allem abbrach, was ihr wichtig war. Unmöglich, das von ihr zu verlangen.
Schlag dir das aus dem Kopf, Junge.
Luke konnte Maurice hören, als stünde er neben ihm.
Maurice.
Seinen Kontaktbeamten.
Den Mann mit den französischen Wurzeln, dessen Mutter in einem kleinen Dorf in der Normandie lebte, in dem sie ihn ohne Vater aufgezogen hatte – falls das wirklich den Tatsachen entsprach und nicht lediglich Teil einer Geschichte war, die Maurice sich ausgedacht hatte, um Lukes Vertrauen zu gewinnen.
Sein leichter, kaum wahrnehmbarer Akzent sprach dafür, dass er tatsächlich aus Frankreich stammte. Um Luke zu erzählen, wie es ihn nach Deutschland und zur Polizei verschlagen hatte, war nicht genug Zeit gewesen. Sie hatten sich nur ein paar Mal getroffen.
Das würde sich auch in Zukunft nicht ändern, denn es war ausgemacht, dass Luke sich nur im absoluten Notfall mit ihm in Verbindung setzen durfte.
Trotzdem hatte er gelegentlich das Bedürfnis, sich mit Maurice zu unterhalten. Vielleicht weil der Polizeibeamte der einzige Mensch war, der über ihn Bescheid wusste. Daran hatte Luke sich anfangs geklammert. Dass es wenigstens einen Menschen auf der Welt gab, dem er nichts vorzuspielen brauchte, der beide Seiten von ihm kannte. Es war sein einziger Halt gewesen, nachdem er vor sechzehn Monaten im freien Fall in einer komplett erfundenen Existenz gelandet war.
Luke klappte die Bücher zu und streckte sich. Er war gern in der Bibliothek. Das Arbeiten fiel ihm hier leichter. Draußen schien unermüdlich die Sonne. Ein leichter Wind wehte durch die geöffneten Fenster herein und mit ihm der verlockende Duft eines so langen, heißen Sommers, wie es ihn das letzte Mal vor zwei Jahren gegeben hatte.
Damals hatte Luke noch in Bautzen gelebt, bei Leo und Maria, in einer eigenen Wohnung in einem der Nebengebäude. Auch Kristof war mit achtzehn in eine eigene Wohnung gezogen. Leo hatte immer darauf bestanden, keinen Unterschied zwischen den Jungen zu machen.
Das schien Lichtjahre her zu sein.
»Hi.«
Ein Mädchen, das er aus einer Vorlesung über Strafrecht kannte, ging aufreizend langsam an ihm vorbei, einen Stapel Nachschlagewerke auf dem Arm. Luke merkte, dass sie mit ihm ins Gespräch kommen wollte. Sie hatte schon oft seine Nähe gesucht und genau aus diesem Grund hielt er sich bedeckt. Sie hatte Erwartungen an ihn, die er nicht erfüllen wollte.
»Hi.«
Er schenkte ihr ein unverbindliches Lächeln und brachte die Bücher, die er benutzt hatte, an ihren Platz zurück. Ganz oder gar nicht, dachte er. Nie würde er mit halbem Herzen lieben können.
Draußen raubte ihm die Hitze den Atem. Obwohl sich bereits der Abend ankündigte, brannte die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Die Geräusche der Stadt, unter einer Dunstglocke aus Abgasen gefangen, verschmolzen miteinander.
Mehr denn je wünschte Luke, er könnte Jette alles anvertrauen. Dass er als
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