Der Sommermörder
während er mit mir durch die Wohnung ging und meine Sicherheitsvorrichtungen inspizierte (die seiner Meinung nach erheblicher Verbesserung bedurften), zog sie sich in meine Küchennische zurück, um Tee für uns zu machen. Ich hörte Wasser rauschen und das Klappern von Geschirr. Es klang, als würde sie abspülen. Schließlich kehrte sie mit drei Tassen zurück. Stadler zog seine Jacke aus und rollte die Ärmel hoch.
»Wir haben Tunfisch mit Gurke, Lachs mit Gurke, Geflügelsalat, Schinken mit Senf«, verkündete er.
Ich nahm den Schinken und Dr. Schilling den Tunfisch.
Mir ging durch den Kopf, dass der Tunfisch bestimmt viel gesünder war.
»Sind Sie so eine Art Polizeiärztin?«, fragte ich sie.
Sie hatte gerade den Mund voll, sodass sie bloß den Kopf schütteln konnte, während sie krampfhaft versuchte, den Bissen hinunterzuschlucken. Ich empfand einen Moment des Triumphs. Es war mir gelungen, sie zu erwischen, als sie gerade mal nicht so würdevoll wirkte.
»Nein, nein!«, antwortete sie, als hätte ich sie beleidigt.
»Bei der Polizei habe ich nur eine beratende Funktion.«
»Und was ist Ihr richtiger Beruf?«
»Ich arbeite in der Welbeck-Klinik.«
»Als was?«
»Grace ist mal wieder zu bescheiden«, schaltete sich Stadler ein. »Sie ist auf ihrem Gebiet eine Koryphäe. Sie können sich glücklich schätzen, sie auf Ihrer Seite zu haben.«
Dr. Schilling drehte sich zu ihm um und sah ihn scharf an, wobei sie ziemlich rot anlief, meiner Meinung nach eher vor Wut als vor Verlegenheit. Dauernd verständigten sie sich mit Blicken oder flüsterten sich etwas zu. Ich kam mir vor wie ein Störenfried in einer Gruppe alter Freunde, die ihren eigenen Jargon hatten, ihre gemeinsame Geschichte.
»Eigentlich wollte ich damit bloß sagen«, fuhr ich fort,
»dass ich als Entertainerin auf Kinderpartys arbeite.
Während der Woche, wenn alle anderen im Büro sitzen, habe ich oft keinen so großen Termindruck. Aber Sie, Dr. Schilling …«
»Bitte, Nadia, nennen Sie mich Grace«, murmelte sie.
»Also gut, Grace, ich weiß, dass Ärzte unglaublich viel beschäftigte Leute sind, diese Erfahrung habe ich jedes Mal gemacht, wenn ich bei einem einen Termin wollte.
Ich gebe ganz offen zu, dass ich es sehr angenehm finde, hier zu sitzen und zu plaudern, und ich bin auch gern bereit, vor Ihnen mein Leben auszubreiten, aber ich frage mich trotzdem, warum eine renommierte Psychiaterin wie Sie hier in einer schäbigen Zweizimmerwohnung in Camden Town auf dem Boden sitzt und ein Tunfischsandwich isst. Sie sehen nicht auf die Uhr, und Sie bekommen auch keine Anrufe auf Ihrem Handy. Das kommt mir wirklich seltsam vor.«
»Das ist überhaupt nicht seltsam«, antwortete Stadler und wischte sich über den Mund. Er hatte sich für den Lachs entschieden. Bestimmt war das Schinkensandwich nicht nur das ungesündeste, sondern auch das billigste gewesen. »Wichtig ist jetzt, dass wir uns genau überlegen, wie wir vorgehen wollen. Wir möchten Sie auf unauffällige Weise beschützen, und der Zweck dieser Zusammenkunft ist, darüber zu entscheiden, wie dieser Schutz aussehen soll. Und was Dr. Schilling angeht, ist sie Expertin für derartige Fälle von Belästigung und hat als solche zwei wichtige Aufgaben. In erster Linie soll sie uns natürlich helfen, die Person zu finden, die Ihnen den Drohbrief geschickt hat. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muss sie aber auch Ihre Person und Ihr Leben genau unter die Lupe nehmen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was diesen Irren auf Sie aufmerksam gemacht hat.«
»Demnach ist es also meine Schuld?«, fragte ich. »Weil ich ihm irgendwie aufgefallen bin?«
»Es ist absolut nicht Ihre Schuld«, antwortete Grace in eindringlichem Ton. »Aber Tatsache ist, dass er sich Sie ausgesucht hat.«
»Ich finde, Sie reagieren total übertrieben«, erwiderte ich.
»Wir haben es hier mit einem Typen zu tun, den es anturnt, Frauen schlimme Briefe zu schicken.
Wahrscheinlich weil er Angst vor Frauen hat. Warum machen Sie eine so große Sache daraus?«
»Sie irren sich«, widersprach Grace. »Ein solcher Brief ist ein Akt der Gewalt. Ein Mann, der einen derartigen Brief verschickt, hat – nun ja, er hat vielleicht … eine Grenze überschritten. Man muss davon ausgehen, dass er gefährlich ist.«
Ich starrte sie verwirrt an. »Sind Sie der Meinung, ich sollte mehr Angst vor ihm haben?«
Sie trank ihren Tee aus. Irgendwie wirkte es fast so, als versuchte sie, Zeit zu schinden. »Ich kann
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