Der Sommermörder
fünfzig Jahre vor mir habe, vielleicht sogar sechzig. Genug Zeit, um zu lernen, meine Filme selbst zu entwickeln, Wildwasserrafting zu machen, das Nordlicht zu sehen und den Mann meiner Träume kennen zu lernen. Oder – noch wahrscheinlicher – die Männer meiner Träume. Zu meiner großen Erleichterung habe ich letzte Woche in der Zeitung gelesen, dass wir Frauen bald in der Lage sein werden, sogar noch mit sechzig Babys zu bekommen.
Wahrscheinlich würde Max ebenfalls auf der Party sein, die ich an diesem Abend besuchen wollte. Während ich durch den dichten Verkehr nach Hause fuhr, nahm ich mir fest vor, mich mal so richtig schönzumachen. Ich würde mir die Haare waschen, mein rotes Kleid anziehen und den ganzen Abend lachen, flirten und tanzen. Dann würde er schon sehen, was er alles verloren hatte, und er würde feststellen, dass es mir überhaupt nichts ausmachte. Ich bin nicht einsam ohne ihn.
Ich wusch mir tatsächlich die Haare und bügelte mein Kleid. Anschließend legte ich mich in ein duftendes Ölbad und entzündete rund um mich herum Kerzen, obwohl draußen noch helllichter Tag war. Hinterher verspeiste ich zwei Scheiben Toast mit Marmite und eine kühle, glänzende Nektarine.
Wie sich herausstellte, war Max doch nicht auf dem Fest, und nach einer Weile hörte ich auf, jedes Mal hochzublicken, wenn jemand zur Tür hereinkam. Ich lernte einen Mann namens Robert kennen, der Anwalt war und buschige Augenbrauen hatte, und einen anderen Mann mit Namen Terence, der eine schreckliche Nervensäge war. Ich tanzte ziemlich wild mit meinem alten Freund Gordon, der mich damals Max vorgestellt hatte. Dann unterhielt ich mich eine Weile mit Lucy, deren dreißigster Geburtstag der Anlass für das Fest war, und ihrem neuen Freund, einem Zwei-Meter-Riesen mit weißblond gefärbtem Haar. Er musste sich regelrecht zu mir herunterbeugen, sodass ich mir neben ihm wie eine Zwergin vorkam. Gegen halb zwölf verließ ich das Fest mit meinen alten Freundinnen Cathy und Mel. In einem chinesischen Restaurant aßen wir Spareribs mit schleimigen Nudeln und tranken dazu billigen Rotwein, bis wir davon angenehm beschwipst waren. Irgendwann wurde es mir in meinem dünnen roten Kleid zu kalt, und ich fühlte mich plötzlich so müde, dass ich nur noch nach Hause in mein großes Bett wollte.
Als ich schließlich in meiner Wohnung eintraf, war es bereits nach eins. Camden Town erwacht nach Mitternacht erst so richtig zum Leben. Auf den Gehsteigen wimmelte es von seltsamen Gestalten. Manche wirkten schon recht mitgenommen, andere überdreht und hektisch. Ein Mann mit einem grünen Pferdeschwanz versuchte mich am Arm zu packen, zuckte dann aber grinsend mit den Schultern, als ich ihm sagte, er solle sich verpissen. Ein schönes, nur spärlich bekleidetes Mädchen wirbelte ganz in der Nähe meiner Straße wie ein Kreisel auf dem Gehweg herum.
Niemand schien ihr Beachtung zu schenken.
Benommen stolperte ich zu meiner Wohnungstür hinauf.
Als ich im Gang das Licht anmachte, sah ich, dass auf der Fußmatte ein Brief lag. Ich hob ihn auf. Keine Handschrift, die ich kannte. Ordentliche, schräge schwarze Buchstaben: Ms. Nadia Blake. Ich fuhr mit dem Finger die gummierte Klappe entlang und zog den Brief heraus.
4. KAPITEL
at er Ihnen die Wohnung auf den Kopf gestellt?«
H »Wie meinen Sie das?«
Links deutete auf das Chaos: die im ganzen Raum verstreuten Kissen, die Zeitungen, die sich auf dem Boden türmten.
»Nein«, antwortete ich. »Das habe ich ganz allein geschafft. Ich hatte in letzter Zeit ziemlich viel um die Ohren. Höchste Zeit, dass ich das in Angriff nehme.«
Der Detective wirkte einen Moment lang verdutzt, als wäre er gerade aufgewacht und wüsste nicht so recht, wo er war.
»Ähm, Miss ähm …«
»Blake.«
»Ja, Miss Blake. Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Kein Problem.«
Ich suchte nach einem Aschenbecher und fand schließlich einen geschnitzten, der die Form der Insel Ibiza hatte. Einen Moment lang machte ich mir wegen eventueller Drogenassoziationen Gedanken, aber Detective Chief Inspector Links hatte offensichtlich andere Sorgen. Er machte keinen sehr gesunden Eindruck.
Ein Onkel von mir hat schon drei Herzinfarkte hinter sich und raucht immer noch, obwohl seine Puste kaum ausreicht, um die Zigarette am Brennen zu halten, und ein Freund von Max erholt sich gerade von einem Nervenzusammenbruch, der zur Folge hatte, dass er für eine Weile in eine geschlossene Anstalt musste. Das ist nun über ein
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