Der Sommermörder
Hinterher warf ich einen Blick durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Ich konnte Lynnes Silhouette im Wagen sehen. Ob sie wohl las oder Radio hörte? Schwer zu sagen. Wahrscheinlich durfte sie nichts tun, was sie ablenken konnte. Ich fragte mich, ob ich ihr eine Tasse Suppe oder Kaffee hinausbringen sollte, ging dann aber einfach ins Bett.
Am nächsten Tag begleitete mich Lynne zum Einkaufen.
Sie saß daneben, während ich Briefe schrieb. Ein wenig peinlich wurde es, als Zach anrief und wir vereinbarten, dass er vorbeikommen würde, um mit mir unseren Terminkalender durchzugehen. Nachdem ich aufgelegt hatte, drehte ich mich zu ihr um und sagte: »Ähm …«
Sofort antwortete sie: »Ich werde draußen warten.«
»Es ist bloß, weil …«
»Schon gut.«
Am frühen Abend klingelte es, und Lynne ging an die Tür. Es war Stadler, bewaffnet mit einer wichtig aussehenden Aktenmappe. Er trug einen Anzug.
»Hallo, Detective«, begrüßte ich ihn mit weicher Stimme.
»Ich löse Lynne für eine Weile ab«, erklärte er, ohne eine Miene zu verziehen. Ohne ein Lächeln. »Alles in Ordnung?«
»Bestens, danke.«
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
Er nahm auf dem Sofa Platz, und ich ließ mich ihm gegenüber auf dem Sessel nieder.
»Na, was haben Sie denn für Fragen, Detective?« Er hatte schöne Hände. Lang und schmal, mit glatten Nägeln.
Er öffnete die Aktenmappe und zog Papiere heraus. »Ich möchte, dass Sie mir etwas über Ihre Exfreunde erzählen.«
»Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Ja, aber …«
»Wissen Sie, was? Ich glaube, über meine früheren Beziehungen würde ich lieber mit Grace Schilling reden.«
Er holte tief Luft. Anscheinend fühlte er sich nicht besonders wohl in seiner Haut, aber das war mir egal. »Es könnte sich als hilfreich herausstellen –«, begann er, aber ich ließ ihn nicht ausreden.
»Ich habe wirklich keine Lust, mich mit Ihnen über weitere Details meines Liebeslebens zu unterhalten.«
Jetzt sah er nicht mehr auf seine Notizen hinunter, sondern starrte mich direkt an. Ich stand auf und wandte mich von ihm ab.
»Ich hole mir ein Glas Wein. Möchten Sie auch eins?
Sagen Sie jetzt bloß nicht: ›Ich bin im Dienst.‹«
»Aber nur ein ganz kleines.«
Ich schenkte sein Glas genau so voll wie meines. Wir gingen in meinen so genannten Garten hinaus. Er grenzte an ein Industriegelände, auf dem Container abgestellt waren, aber es war immer noch besser, als ständig drinnen zu sitzen. Inzwischen hatte es zu regnen aufgehört, und seit langer Zeit war die Luft wieder angenehm frisch. Die Blätter des Birnbaums glänzten nass.
»Hier draußen muss ich auch mal was tun«, erklärte ich.
»Das Unkraut nimmt langsam überhand.«
»Immerhin ist man hier schön ungestört. Keiner kann reinsehen.«
»Das stimmt.«
Ich nahm einen Schluck von meinem Wein. Er wusste eine Menge über mich. Er wusste über meine Arbeit Bescheid, meine Familie, meine Freunde und meine Männer, meine Examensergebnisse und meine Finanzen.
Er wusste, dass ich mir ein Cabrio wünschte, eine bessere Singstimme und eine würdevollere Art, und er wusste, dass ich unter Höhenangst litt und mich vor Aufzügen, Schlangen und Krebs fürchtete. Ich hatte mit ihm und Grace gesprochen, wie ich es sonst nur mit einem Geliebten tat, mit dem ich nach dem Sex noch im Bett lag und, während es draußen schon dunkel und still war, kleine Geheimnisse und intimen Unsinn austauschte. Über ihn aber wusste ich nichts, absolut nichts. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schwindlig.
Wir lehnten uns aneinander. Na wunderbar, dachte ich: Schon wieder stand ich davor, einen großen Fehler zu begehen. Aber noch während mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, blieb ich an einer dicken Ranke hängen und stolperte. Ich ließ mein Glas fallen und landete auf den Knien im feuchten Gras. Er ging neben mir in die Hocke und schob eine Hand unter meinen Ellbogen.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf«, sagte er mit heiserer Stimme. »Kommen Sie, Nadia.«
Ich schlang die Arme um seinen Hals. Er sah mich an.
Sein Blick war schwer zu deuten, ich konnte nicht sagen, was er dachte oder wollte. Ich küsste ihn voll und hart auf den Mund. Seine Lippen waren kühl, seine Haut warm. Er schob mich nicht weg, erwiderte meinen Kuss anfangs aber nicht, sondern kniete einfach nur da und ließ sich von mir halten. Ich sah die Linien seines Gesichts, die Fältchen rund um seine Augen, die Furchen um seinen Mund.
»Dann
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