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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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jemanden umgebracht hat, denkt nicht mehr so rational.«
    »Wie auch immer, sie hat nicht viel besessen. Vielleicht hat sich ihre Tante schon bedient. Die Polizei wird natürlich auch etwas mitgenommen haben. Im Großen und Ganzen sieht aber noch alles so aus, wie ich es in Erinnerung habe. Ein trister Ort, finden Sie nicht auch?«
    »Ja.«
    »Sie hat die Wohnung gehasst, vor allem zum Schluss.
    Diese Räume spiegeln überhaupt nicht wieder, wie Zoë war.« Wir gingen zurück ins Wohnzimmer und setzten uns aufs Sofa. »An ihrem letzten Tag sind wir zusammen einkaufen gegangen. Sie wollte sich ein paar Sachen besorgen, die sie tragen konnte, bis sie ihr ganzes Zeug aus der Wohnung geholt hatte. Wir suchten mehrere Slips für sie aus, außerdem einen BH und einige Paar Socken.
    Dann sagte sie, sie wolle sich ein T-Shirt kaufen. Meine waren ihr alle zu groß. Sie war sehr dünn, und die ständige Angst hatte sie noch mehr abmagern lassen. Deswegen landeten wir am Ende in einem Kinderladen ganz in der Nähe meiner Wohnung, wo sie ein leichtes Sommerkleid und ein weißes T-Shirt mit kleinen aufgestickten Blumen fand. Zehn bis elf Jahre, stand auf dem Etikett. Zehn bis elf Jahre – es passte ihr wie angegossen. Sie probierte es an, und als sie damit aus der Umkleidekabine kam, sah sie so … so unglaublich süß aus, mit ihrem zerzausten Haar, den dünnen Armen, ihrem lebhaften Gesicht und dem Kinder-T-Shirt. Sie musste selbst ein bisschen lachen.«
    Während Louise sprach, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie unternahm keinen Versuch, sie wegzuwischen.
    »So habe ich sie in Erinnerung«, fügte sie hinzu. »Sie war dreiundzwanzig, eine junge Frau mit einem richtigen Erwachsenenberuf, einer Wohnung und allem, was sonst noch dazugehört. Aber immer, wenn ich an sie denke, sehe ich sie wieder in ihren Kindersachen vor mir stehen und mich anlachen. Sie war so klein, so jung.« Louise fischte ein Kleenex aus ihrer Tasche und wischte sich damit übers Gesicht. »So sah sie aus, als sie starb. Hübsch herausgeputzt, in lauter brandneuen Sachen. Sauber und frisch wie ein Gänseblümchen.«
    »Meine Damen!« Guy streckte den Kopf zur Tür herein.
    Er machte ein ziemlich verdutztes Gesicht, als er uns eng umschlungen und mit tränenüberströmten Gesichtern auf der Couch sitzen sah. Ich wusste nicht genau, um wen ich trauerte, aber wir blieben trotzdem noch eine Weile sitzen und weinten weiter. Als wir schließlich gingen, nahm Louise mein Gesicht in beide Hände, hielt mich einen Moment fest und starrte mich an.
    »Viel Glück, Nadia, meine neue Freundin«, sagte sie.
    »Ich werde an dich denken.«

    19. KAPITEL
    ls es am nächsten Abend kurz vor sieben an meiner Haustür k
    A
    lingelte, lag ich gerade auf dem Sofa. Bis dahin war dieser Tag nicht besonders gut verlaufen. In den frühen Morgenstunden hatte ich wach gelegen und an Zoë und Jenny gedacht. Inzwischen waren die beiden für mich fast so etwas wie Freundinnen geworden, vielleicht sogar mehr als das. Während ich so dalag, stellte ich mir vor, wie ich einen Weg entlangging, von dem ich genau wusste, dass die beiden anderen Frauen ihn vor mir gegangen waren, erst Zoë und dann Jenny. Manchmal konnte ich sogar noch ihre Spuren erkennen. Ich wusste, dass sie alles gesehen hatten, was ich gerade sah. Sie waren mir vorausgegangen, und während der Himmel hinter meinen Vorhängen langsam heller wurde, stellte ich mir vor, dass sie dort draußen im dunklen Nichts auf mich warteten.
    Hatten sie sich ebenfalls Gedanken übers Sterben gemacht? Was hatten sie getan? Damit meinte ich nicht die Sicherheitsvorkehrungen, die sie getroffen hatten.
    Nein, ich fragte mich vielmehr, ob sie ihre Lebensweise geändert hatten. Was macht man, wenn man vielleicht nur noch einen Tag oder eine Woche zu leben hat? Angeblich erscheint einem das Leben dann plötzlich viel kostbarer.
    Wahrscheinlich sollte ich versuchen, klar zu denken und große Werke der Weltliteratur zu lesen. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt solche großen Werke besaß.
    Nachdem ich aufgestanden war und mir eine Kanne Kaffee gekocht hatte, ließ ich den Blick mein Bücherregal entlangwandern und stieß dabei auf einen Gedichtband, den mir mal jemand zum Geburtstag geschenkt hatte.

    Angeblich handelte es sich dabei um Gedichte, die sich besonders gut zum Auswendiglernen eigneten, aber mir bereitete allein schon das Lesen Schwierigkeiten.
    Irgendwas schien mit meinem Gehirn nicht in Ordnung zu sein. Der Sinn der

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